Stadtvisionen

Christian Holl
3. November 2010
Albert Gessner (1868–1953) Wettbewerb Groß-Berlin 1910. Von der Südbahnhofstraße zum Müggelsee. (Bild: TU Berlin) 

Die Ausstellung Stadtvisionen 1910 | 2010 – Berlin | Paris | London | Chicago im Architekturforum der TU Berlin erinnert an die "Allgemeine Städtebau-Ausstellung in Berlin" vor hundert Jahren. Die Kuratoren stellen 1910 und 2010 als signifikante Schlüsseljahre des Städtebaus einander gegenüber und gliedern die Exponate dabei wider Erwarten nicht entlang der vier Profilstädte, sondern entlang thematischer Einheiten, die sich ihnen als bestimmende Handlungsfelder in den jeweiligen Epochen herauskristallisiert haben. Mit der Entscheidung, diese Handlungsfelder nicht en bloc nach Entstehungszeit zu ordnen, sondern sie thematisch zu verweben, wird der Blick auf die Überschneidungen und Konvergenzen über die hundert Jahre hinweg freigegeben. So folgt man in der Ausstellung unterschiedlichen Plänen und Problemformulierungen zu Themen, die sich 1910 wie 2010 finden lassen. Städtebaulichen Herausforderungen wie "Urbane Alternativen zur hoch verdichteten Innenstadt" (1910) werden "Alte Arbeiterquartiere: Brennpunkte des Wandels" (2010) oder "Quartiere des sozialen Wohnungsbaus: Abriss oder Neubau" (2010) gegenübergestellt. Eine andere semantische Einheit bildet die Frage nach der regionalen Ausdehnung der Stadt, etwa in den Themenfeldern "Neue Gartenvorstädte" (1910) – "Alternativen zur suburbanen Zersiedlung" (2010) oder eben "Mobilität in der Stadtregion" (1910) – "Prima Klima: nachhaltige Mobilität in der Stadtregion" (2010), in der sich die Debatte um die Post-Oil- oder Post-Kyoto-City eingespeist findet. Der "Kult des großen Plans" (1910) und der "Kult des strategischen Plans" (2010) stellen Einleitung und Ende dieser Schau dar.

Es bleiben aber auch Lücken. Man fragt sich zum Beispiel, wie denn die städtebaulichen Herausforderungen informeller Siedlungen in nichtwestlichen Städten einzuordnen wären. Man fragt sich, wo sich der Städtebau der Jahrzehnte zwischen 1910 und 2010 wiederfindet. Wo wären eigentlich Fragen nach Steuerungsinstrumenten und Planungsverfahren unterzubringen, und wo und wie würden dann die Rollen von Städtebauern, Planern und Bewohnern der Stadt verhandelt? Lässt man sich jedoch darauf ein, die Ausstellung als essayistisch angelegte Forschung zu begreifen, dann bereichern die Einsichten in die Aufgaben, an denen sich die postfordistischen Städte der Industrienationen derzeit konkret abarbeiten.

Während die Städteausstellung 1910 versucht hat, Bilder und Lösungen zur Steuerung für die Raumentwicklung zu entwerfen und zu entwickeln, liegt die Stärke dieser Ausstellung eher darin, einen Schritt zurückzutreten. Die Ausstellung zeigt die Vielfältigkeit städtebaulicher Antworten und wie inspirierend und viel versprechend ein systematischer Austausch über die Ländergrenzen hinweg sein könnte. Auf der anderen Seite wird deutlich, dass die Fragen, die derzeit in den ausgestellten Städten anstehen, ganzheitliche Ansätze erfordern, die nicht durch einen privatwirtschaftlich getriebenen Inselurbanismus zu lösen sind, sondern die Disziplin des Städtebaus wieder auf den Plan rufen. Das gibt Anstoß, über die gegenwärtige Praxis in der Stadtentwicklung insgesamt neu nachzudenken. Nina Brodowski

2010: "Grand Paris – Métropole Douce" von LIN (Finn Geipel, Giulia Andi). (Bild: TU Berlin)

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