Schöne Bescherungen im November

Christian Holl
1. Dezember 2010
Im Rahmen des Urban Intervention Award zeigt sich die Fantasie im Umgang mit der Stadt, die man von Politikern schmerzlich vermisst. 1. Preis Kategorie "Temporary": Die Stadtküche, Berlin-Neukölln/ Deutschland, 2009. (Foto: Nicole Erbe) 

Schon vorher war klar: es wird keinen Schlichterspruch zu Stuttgart 21 geben können, mit dem beide Seiten einverstanden sein können. Auch einen Volksentscheid wollte Geißler nicht empfehlen. Was er dann am 30. November ab 16:50 h verkündete, war mehr oder weniger schon vorher so erwartet worden. Er empfehle Stuttgart 21 fortzusetzen, aber an wesentlichen Stellen nachzubessern und eine gesteigerte Leistungsfähigkeit um 30 Prozent in Spitzenzeiten nachzuweisen – das heißt unter anderem zehn Gleise im neuen Bahnhof, erhöhte Sicherheit, verbesserte Situation bei den Zufahrtsgleisen. Die entsprechenden Schwachpunkte in den Planungen konnten nach der Schlichtung nicht mehr geleugnet werden. Dank der Schlichtung sind die Menschen in vielen Details erstmals umfassend informiert worden. Leider 15 Jahre zu spät, es konnte deswegen auch nicht zu grundlegenden Änderungen des Projekts kommen, ohne es aufzugeben – die Strategie, keine Alternativen zu planen, ist also letztlich aufgegangen. Nun soll Stuttgart 21 fortgesetzt werden. Werden aber die Empfehlungen Geißlers berücksichtigt, wird das Projekt deutlich teurer, werden vielleicht sogar Feststellungsverfahren neu aufgerollt werden müssen, werden Mittel gebunden werden, die anderswo fehlen. Das Projekt wird weiter schwierig bleiben und Widerspruch wecken. Wieviel falsch gelaufen ist, und auch nicht mehr korrigiert werden kann, hatte Klaus Selle in der Frankfurter Rundschau im Interview dargestellt.
Viel war davon die Rede, dass die Stuttgart 21-Schlichtung sich gelohnt habe. Ob das stimmt, kann erst die Zukunft zeigen. Denn diese Schlichtung wird nur dann ein Gewinn für die Demokratie sein, wenn man aus den Fehlern tatsächlich lernt. Eine Gewähr dafür gibt es nicht, wachsam zu bleiben, bleibt erste Bürgerpflicht. Darüber, wie sich Stuttgart 21 weiter entwickeln wird, wenn das bundesweite Interesse erlahmt ist, werden wir Sie auf dem Laufenden halten.
Die Wahrscheinlichkeit, dass die städtebaulichen Versprechungen von Stuttgart 21 eingelöst werden, ohne dafür andere zu benachteiligt, ist indes nicht größer geworden. Denn während in Stuttgart Geißler schlichtete, hat man in Berlin in diesen Tagen großen Schaden angerichtet. Um 25 Prozent werden die Bundesmittel für die Städtebauförderung gekürzt. Der zuständige Minister Raumsauer wollte sie zunächst um 50 Prozent kürzen – das allerdings war ein derart deprimierender Nachweis fachlicher Unkenntnis, der landauf, landab von Bürgermeistern, Verbänden und Institutionen auf das heftigste kritisiert worden war, dass Ramsauer zurückrudern musste. Das Schlimmste sei verhindert, so der Deutsche Städtetag, die Vereinigung für Stadt-, Regional- und Landesplanung bleibt aber dabei, dass diese Kürzung unsozial und ungerecht sei. Schlimmer noch traf es das Programm Soziale Stadt, das um mehr als zwei Drittel gekürzt worden ist. Dieses Programm war bislang zu einem nicht unerheblichen Teil daran beteiligt, die in diesen Tagen so oft beschworene Integration von Migranten in den Stadtquartieren zu unterstützen. So schafft die Politik nun die Voraussetzungen dafür, die vermeintlich fehlende Bereitschaft zur Integration zu beklagen – welch ein Schmierentheater. Aber nochmal zurück zu Stuttgart: hier wurde im Vorfeld der Schlichtung einmal mehr eine schöne neue Stadt versprochen. Mag sein, dass dieses Versprechen auf einem Teil des durch Stuttgart 21 freiwerdenden Geländes irgendwann einmal eingelöst werden wird. In Berlin schuf man indes die Voraussetzungen dafür, dass Stadtentwicklung an anderen Orten schwieriger werden wird. In anderen Städten, im übrigen Stuttgart, für die Jahre, die vergehen werden, bis die Gleisflächen überhaupt werden bebaut werden können, haben sich die Aussichten für eine qualitätvolle, eine zwischen Begünstigten und Benachteiligten ausgleichende Stadtentwicklung deutlich eingetrübt. ch

Im Urban Intervention Award nominiert in der Kategorie "Built": Lesezeichen Salbke, Magdeburg/ Deutschland, 2009. (Bild: Thomas Völkel) 

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