10. November 2010
Zementierten falsche Gegensätze: Anne Will mit Klaus Staeck, Meinhard von Gerkan und Christian Ströbele  ARD, Anne Will

Stunde um Stunde konnte man an den drei Schlichtertagen verfolgen, wie der alte Fuchs Heiner Geißler Befürworter und Gegner des Projektes Stuttgart 21 zur Ordnung rief, um verständliche Sprache bat, zu präszisen Informationen verpflichtete und in eigenen Zusammenfassungen die Probleme und Problemchen auf den Punkt brachte. Ziemlich einig ist man sich inzwischen, dass solche oder vergleichbare öffentliche Verfahren von Anfang an zur Regel werden sollten. Interessierten sei ein Download empfohlen, den die Stuttgarter Zeitung zum Thema Stuttgart 21. Von den Anfängen Ende der 80er Jahre bis heute anbietet. Auch das "Vor-Ort-Blatt" kann natürlich keinen lückenlosen Geschichtsbericht liefern, aber doch Verfahrensschritte ins Gedächtnis rufen. Die Schlichtung bei Stuttgart 21 hat kein klares Ziel – und kann eigentlich nur immer wieder offenlegen, wie die unzulänglichen Verfahren, die schlechte Kommunikation, die Tricks und Verhandlungen hinter verschlossenen Türen, Betriebsgeheimnisse und interne Absprachen die Bürger verdrossen haben. Allseits wird Besserung in den Verfahren gelobt – aber was genau verspricht man sich davon?
In der FAZ ging Patrick Bahners vor kurzem der Frage nach, was "Legitimation durch Verfahren" heute bedeute. So lautete der Titel eines Buchs von Niklas Luhmann (1970, inzwischen 3. Auflage), in dem der Systemtheoretiker klarlegte, wie Entscheidungen statt von oben nach unten mit verschiedenen Rollen getroffen werden könnten. Grundlage dafür: periodische Wahlen und kontinuierliche Gesetzgebungen als Verfahren. Der Einzelne habe die Wahlen für unspezifische Einflussnahme, aber auch andere Chancen, seine Interessen darzulegen. Und natürlich könne er deswegen gegen eine bestimmte Entscheidung protestieren, die er als Wähler akzeptiert habe.
Derweil wird die öffentliche Debatte immer verquaster, weil die Politik ihre Gegner in Sachen Atomkraft und Stuttgart 21 und Fehmarnbeltbrücke und so weiter alle in den Topf der Nörgler und Neinsager und Technikfeinde wirft, die unser Land um unsere Zukunft bringe. Solcher Blödsinn entspricht wieder den alten Regeln der Feindbildkonstruktion und bringt niemanden weiter.
Wer Stuttgart 21-Gegner ist, kann leidenschaftlicher Technikfreak sein – viele sind es auch. Wer gegen Atomkraft ist, kann die Energietechnik rasant vorantreiben – viele tun genau dies. Die eigentliche Herausforderung bei Großprojekten muss man darin sehen, dass sie nicht wie schwerfällige Tanker, sondern wie wendige Schnellboote gelenkt und entwickelt werden müssen. Darin liegen unglaubliche Herausforderungen für die Technik von morgen und unsere demokratische Entscheidungskultur.
Wirklich "von gestern" sind diejenigen, die Großprojekte oder prekäre kleinere Vorhaben wie anno dazumal mit der Basta-Politik durchsetzen möchten. Nach Luhmann gibt's da nur eins: Abwählen! ub

Mehr zu Stuttgart 21 finden Sie im Online-Tagebuch, das frei04-publizistik mit dem Baumeister begonnen hat.

 

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