Realstadt

Christian Holl
6. Oktober 2010
Foto: Jan Bitter, Berlin

"Wie die Tate Modern!“ lautete der Satz, der bei der Eröffnung am vergangenen Freitag am häufigsten zu hören war. Erinnerten nicht sogar die riesigen Gaslichtballons hoch oben unter der Decke des 1961 errichteten, aber seit 1997 leerstehenden und bisher "unentdeckten" Kraftwerks, erinnerten nicht auch diese künstlichen Sonnen irgendwie an Olafur Eliasson und seine berühmte Installation in der gigantischen Maschinenhalle der Londoner Tate Modern?
Wer nicht vom Ort bezaubert und angesichts der reichen Beute von 250 Modellen beseelt durch die Hallen streifte, sich also der puren Schaulust hingab, der stellte gelegentlich auch kritische Nachfragen. Was das alles denn solle, wo der rote Faden sei und warum die Kuratoren bloß immer vom "Wünschen" redeten – auch diese Fragen drangen immer wieder durch das Geschwirr der Stimmen einer rekordverdächtigen Besucherschar von etwa 2.000 Personen.
Um die Ausstellung zu verstehen und die Leistung der Kuratoren Martin Heller (Zürich) und Angelika Fitz (Wien) angemessen würdigen zu können, schadet es nicht, die Hintergründe des Vorhabens zu kennen. Am Anfang stand die Initiative des Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Stadtentwicklung (BMVBS), einen Wettbewerb durchzuführen, der intern als der "Preis der Preise" gehandelt wurde. Unter dem pompösen Titel "Nationaler Preis für integrierte Stadtentwicklung und Baukultur" (Untertitel "Stadt bauen. Stadt leben.") wurden im Jahr 2009 nicht weniger als 43 Preise und 12 Sonderpreise in 5 Kategorien vergeben, die alle irgendwie mit dem Riesenthema Baukultur zusammenhingen. Doch wie sollte dieses XXL-Paket jenseits der Fachöffentlichkeit kommuniziert werden?
Da klingelte dann wohl das Telefon bei Martin Heller in Zürich, einem Kurator und Inszenierungs-Spezialisten, der zuletzt als Intendant der "Europäischen Kulturhauptstadt Linz09" tätig war. Gemeinsam mit der Architekturkuratorin Angelika Fitz (unter anderem verantwortlich für zwei Auftritte Österreichs auf der São-Paulo-Architekturbiennale) gelang es ihm, ein Projekt anzustoßen, dass über den ursprünglichen Auftrag weit hinaus schießen konnte. Die 55 BMVBS-prämierten Projekte spielen darin nur noch eine Nebenrolle. Die Hauptakteure hingegen, 250 Architektur- und Städtebaumodelle wurden in einem beispiellosen "Call for Models" in der ganzen Republik zusammengecastet. Da trifft vieles zusammen, was nicht unbedingt zusammengehört. Aber bitte – wo hat man je so eine grandiose Palette der Möglichkeiten gesehen, über Architektur und Stadt nachzudenken? Im Kuratorensprech heißt das, ganz zutreffend: "Wünsche als Wirklichkeit".
Natürlich ist die Summe der Modelle im Kraftwerk keine "Realstadt", sondern eine Papageienparade der Architektenideen der letzten Jahrzehnte. (Zur Erinnerung: Die echte Stadt da draußen ist nicht von Architekten erdacht worden. Höchstens in Wolfsburg, Hoyerswerda…). Aber trotzdem: Unter viel Langeweile und ranzig gewordenen Avantgardismen lassen sich viele Perlen entdecken. Der Besucher als Flaneur, das klingt abgedroschen, aber funktioniert tatsächlich. Wer hier den roten Faden seiner Lieblingsprojekte nicht selber zu knüpfen vermag (die gut geschriebenen Kurztexte sind eine Hilfe), dem bleibt immer noch das Kraftwerk selbst: Als Möglichkeitsraum und Riesenprojektionsfläche der eigenen Wunschvorstellungen. Oliver Elser

Informationen zur Ausstellung

Foto: Jan Bitter, Berlin

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