Oscar Niemeyer 1907–2012

Christian Holl
12. Dezember 2012
Oscar Niemeyer in den 1950er Jahren. (Bild: Wikimedia Commons) 

Der Ausgleich der Gegensätze sei ihm ein kaum fassbares Kontrasterlebnis gewesen, so Volker Michels über Stefan Zweig im Nachwort über dessen Brasilien-Buch. Kontrasterlebnis zum Europa, zum Deutschland von 1936. Brasilien, so Zweig, habe die angebliche Gültigkeit des Rasseproblems einfach ignoriert. Als das Buch über das "Land der Zukunft" 1941 erschien, war Oscar Niemeyer dort kein Unbekannter mehr. Als Mitarbeiter Le Corbusiers (neben Lucio Costa Niemeyers wichtigster Lehrer) hatte er Juscelino Kubitschek, damals noch Gouverneur des Bundesstaats Minas Gerais, beeindruckt. Niemeyer erhielt 1940 den Auftrag zum Pamphulha-Komplex in Belo Horizonte. Die großartige Karriere eines großartigen Architekten hatte begonnen. Und seine Werke prägen unser Bild von Brasilien bis heute, sie gehören zu dem Brasilien, dessen ambivalenter Faszination sich nach Zweig europäische Intellektuelle nicht entziehen konnten – Max Bense etwa, Villem Flusser oder Claude Levi-Strauss; noch 2008 machte die arch+ in der Stadtarchitektur von São Paulo ein soziales Raumkonzept aus. In Niemeyers Werken kommt zusammen, was andern unvereinbar schien, als müsste er architektonisch unter Beweis stellen, was Zweig an Brasilien so fasziniert hatte: die rationalistische Moderne und die poetische Kurve, die Ingenieurbaukunst und die ikonenhafte Überhöhung, die symbolische Repräsentanz und die Reduktion auf die Ausdruckskraft der Form und des Materials. Ohne seine Bauten hätte Brasília nicht die Bildmächtigkeit, mit der diese Stadt der Moderne auch jenen präsent ist, die sie nie besucht haben. Das Copan-Hochhaus, eine Wohnmaschine, in der heute 5000 Menschen leben, sticht selbst in einer Stadt wie São Paulo heraus. Er war Kommunist und baute Kirchen, er ist der Protagonist der Moderne in Brasilien und gilt gleichzeitig als deren Überwinder. "Der Mangel an Menschlichkeit ist sicher der Hauptgrund der Unzulänglichkeit unserer modernen Architektur", wusste er schon 1955. Vom Exil, in das er 1966 von der Militärregierung durch das ihm auferlegt Berufsverbot gezwungen wurde, kehrte er 1982 wieder ganz zurück. In Brasilien hatte er da schon lange wieder gebaut, ebenso unter anderem in Paris, Le Havre, Mailand, Turin und Algier. Da war er 75 und baute weiter, als gälten die Grenzen des Alters nicht für ihn, als könne er sie einfach ignorieren. Es mag sein, dass in seinen späten Werken nicht mehr die suggestive Kraft der frühen war, weil sie nicht mehr überwinden müssen, was anderen noch sakrosankt wäre. Das Museum von Niteroi bewahrt noch, stilisiert, ironisierend vielleicht gar, den Glauben an das Land der Zukunft, das Brasilien vielen gewesen war, als könne man immer noch abheben, hinüberwechseln in eine andere Welt, in der die Gegensätze, die die unsere prägen und so unerträglich belasten, ausgeglichen werden könnten. Vielleicht ist Oscar Ribeiro de Almeida Niemeyer Soares Filho am 6. Dezember 2012, kurz vor seinem 105. Geburtstag, dorthin aufgebrochen.

Bei Dom Publishers erschien gerade ein Hörbuch von Moritz Holfelder zu den wichtigsten Werken von Oscar Niemeyer, in dem der Architekt Auskunft über seine Arbeit und seine Bauten gibt.

In Ulm ist ab dem 14. Dezember eine Ausstellung über Brasília mit Bildern von Lina Kim und Michael Wesley zu sehen. Das Buch zur Ausstellung, "Archiv Utopia", erschien im Kehrer Verlag.

Die Palácio da Alvorada von 1958, die Residenz des brasilianischen Präsidenten. (Bild: flickr.com/ seier+seier) 

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