Metropolen vor dem Sucher

Simone Hübener
4. September 2010
 

Großstädte bieten (Architektur-) Fotografen zahlreiche Motive. Den Blick des Profis kennzeichnet nun, dass er daraus das Besondere wählt, uns Dinge vor Augen führt, die im Trubel allzu gerne übersehen werden, oder mit Fotoserien viele Tage, Monate oder gar Jahre nochmals wie im Zeitraffer an uns vorüberziehen lässt.
Auf einen Spaziergang durch die historische Mitte Berlins nimmt uns der Fotograf Arwed Messmer in seinem Bildband "Anonyme Mitte Berlin" mit. Für dieses einzigartige Buch hat er eigene Aufnahmen, eine zeitgenössische Fotografie eines Kollegen und historische Bilder, hauptsächlich von Fritz Tiedemann, so zusammengestellt, dass sie auf eine ganz spezielle Weise die Geschichte dieses Ortes, dieses Teils der Stadt Berlin erzählen. Einige seiner Bilder, die alle in den Jahren 1994 bis 2009 entstanden sind, hat Messmer dort aufgenommen, wo rund sechzig Jahre zuvor bereits Tiedemann mit seiner Kamera gestanden hat. Schaut man sich nun beide Aufnahmen direkt hintereinander an, dann entdeckt man Erstaunliches: Wo kurz nach dem Zweiten Weltkrieg nichts als Leere herrschte, steht heute schon wieder kein Stein mehr auf dem anderen. Diese immerwährende Zerstörung, egal ob durch Krieg oder Abriss, führt zu einer "Gesichtslosigkeit der Gegenwart, zur anonymen Mitte der deutschen Metropole", wie Florian Ebner in seinem Aufsatz am Ende des Buches schreibt. Die Reihenfolge der Einzelaufnahmen und Panoramabilder ist dabei sehr genau bedacht, sie erzeugt einen gekonnten Wechsel zwischen Gestern und Heute. Ein Stadtspaziergang der Schriftstellerin Annett Gröschner, der gespickt ist mit sehr interessanten, historischen Zitaten, und vier Karten, auf denen der Verlauf dieses Weges sowie alle Kamerastandpunkte und Blickwinkel eingezeichnet sind, ergänzen dieses empfehlenswerte Buch.
Während uns Messmer in seinem Buch unbekannte Ansichten einer uns wohlbekannten Stadt zeigt, begeben sich die Leser von "Mormo" mit den Fotografien von Jörg Esefeld und Sascha Neroslavsky auf eine Reise durch Moskau, einer weit entfernten, vielen von uns fremden Stadt. Aus den Jahren 1987 und 1988 stammen die 44 Schwarzweiß-Fotografien von Jörg Esefeld, der die avantgardistische Architektur Moskaus sowie Szenen aus dem Alltag der Bewohner im Bild festgehalten hat. Dass die 53 Aufnahmen Neroslavskys, die zwischen 2003 und 2009 entstanden sind, von einem völlig anderen, veränderten Moskau erzählen, wird schon dadurch deutlich, dass sie farbig abgedruckt wurden. Kurze Texte verschiedener russischer und ausländischer Autoren sind den Fotografien zur Seite gestellt und erzählen entweder die Architekturgeschichte des Abgebildeten oder persönliche Erlebnisse aus dieser mit knapp elf Millionen Einwohnern größten Stadt Europas. Dabei stehen feuilletonistische Texte neben prosaischen, eher rational verfasste neben sehr emotionalen, manche wurden ins Englische, einige auch ins Russische übersetzt – wobei nicht ganz klar wird, warum welcher Text in der einen und nicht in der anderen Fremdsprache erscheint. (Die restlichen können allerdings als pdf hier heruntergeladen werden.) Grafisch wurde die Problematik der verschiedenen Sprachen, wie auch die Präsentation von Bildern und Texten, hervorragend gelöst, denn jeder ist vom Inhaltsverzeichnis bis zu den Biografien am Ende des Buches eine Farbe zugeordnet. Dieser zweite, tolle Band aus der Reihe der Stadtlesebücher ist, wie bereits "My New York" als erster Band, hervorgegangen aus einer Ausstellung im Theaterhaus Stuttgart, die dort im Sommer 2008 zu sehen war. sh

 

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