Konstruktion und Appelle

Christian Holl
7. September 2010
 

Es ist nicht erst in letzter Zeit eine Form der Rhetorik in den Städtebaudebatten, einzufordern, dass die Stadt als eine gegebene geschichtliche Größe akzeptiert werden müsse. Man habe ihrer historischen Konstanz dadurch die Referenz zu erweisen, dass man sie fortsetzt. Eine solche Argumentation ist sehr brüchig. Das zeigt Gerhard Vinken im Buch Zone Heimat. Vinken, Kunsthistoriker und Professor für interdisziplinäre Stadtforschung in Darmstadt, widmet sich der "Altstadt" – also just jenem Teils der Stadt, der uns als der authentische par excellence erscheint, der uns scheinbar unverfälscht mitteilt, was einmal Stadt gewesen ist. Unverfälscht ist die Altstadt nicht – gerade als vermeintliches historisches Zeugnis ist dieser Teil der Stadt eine Konstruktion der Moderne, so Vinkens überzeugend belegte These. Der Autor muss nicht die offensichtlichen Beispiele des Berliner Nicolaiviertels oder von Rothenburg ob der Tauber bemühen. Er greift auf Basel und auf Köln zurück – und zeigt gerade an den beiden unterschiedlichen Beispielen, dass die Altstadt ein Phänomen ist, das ohne die Zumutungen, ohne die Umbrüche der Moderne nicht zu denken ist, dass sie als eine Form der kulturellen Selbstvergewisserung gelesen werden kann, die das betont und inszeniert, was man in ihr zu lesen können meinte – und dadurch erst diese Lesbarkeit herstellt.
Den Anspruch, Lesbarkeit von Zusammenhängen und Potenzialen einer anderen Aufgabe herzustellen, verfolgen die Herausgeber des über 600 Seiten starken Kompendiums Ecological Urbanism. Es gehe dabei, so Mohsen Mostafavi, um eine neue Form des kreativen Imaginierens – hier sollen dringend gebotene Perspektiven und Handlungsoptionen sichtbar und damit handhabbar gemacht werden. Das Buch, in dem Autoren aus verschiedenen Disziplinen zu Wort kommen (neben Architekten und Stadtplaner Ökonomen, Ingenieure, Künstler, politische Entscheidungsträger, Umweltforscher und Fachleute aus dem Gesundheitswesen), verfolgt einen appellativen Anspruch – die Kategorien, nach denen die Beiträge geordnet sind, tragen meist Imperative als Überschrift: Collaborate, Mobilize, Interact, Incubate. So kritisch man auch im Einzelnen die Projektvorschläge, Architektenphantasien oder Diagramme beurteilen mag, so sehr muss man doch würdigen, wie intensiv hier an einem Austausch des Wissens gearbeitet wird, an einem Prozess, der keine abschließenden Wahrheiten liefern soll. Bemerkenswert ist dabei ferner, dass das Thema als ein globales dargestellt und eingefangen wird – und dass deutlich gemacht wird, dass eine Gegenüberstellung von dichter Stadt und freiem Land nicht nur an den Realitäten, sondern vor allem an den Potenzialen ökologischer Planung vorbeigeht. Im alten Europa darf ja trotzdem die Altstadt in Raumbildern und Ensembles das Bedürfnis nach kollektiver Selbstvergewisserung stillen, das auf den Feldern des Nebeneinanders von Stadtfragmenten, Landwirtschaft und Energiegewinnung nicht befriedigt werden kann. ch

 

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