Ein Neuling und ein Jubilar

Christian Holl
30. Januar 2013

Es gibt eine neue Zeitschrift. Sie heißt Stadtaspekte und will sich der "dritten Seite der Stadt" widmen. Im Editorial steht, was die Herausgeber darunter verstehen: Es sei die Seite, die "unter den Oberflächen der urbanen Landschaften schlummert". Nun gut, es ist ja kein Literaturmagazin. Und keine Fachzeitschrift. Der Schwerpunkt des ersten Heftes lässt sich, wenn nicht alles täuscht, als programmatisch für das Gesamtprojekt verstehen: "Der erste Blick", so das Thema, steht dafür, die Stadt, die man vermeint zu kennen, wieder so zu sehen, als wäre es das erste Mal. Ein Wagnis ist es allemal, mit crowdfunding finanziert und mit viel Liebe, aber auch schon einigem routiniertem Geschick konzipiert und produziert. Um zu den Beiträgen zu kommen, rief man dazu auf, Texte, Fotos, künstlerische Positionen einzureichen; 150 waren es, aus denen die Redaktion dann auswählte.
Man nimmt die Zeitschrift gern in die Hand. Angenehm gestaltet, ein bisschen so, wie man das jetzt eben macht, mit farbigen Flächen, leicht rauem Papier, angeblassten, durchweg guten und sorgfältig ausgewählten Bildern. Die Texte kommen überwiegend von jungen Autoren aus dem wissenschaftlichen Milieu, die Spaß am Erzählen haben. So entstand eine Mischung aus Reportagen über Frauen aus Mumbai und kranke Robinien, über Mendelsohns Amerika-Buch und über Detroit-City, dazu Fotoserien von Gated Communities in Südafrika und ausgesetzten Zimmerpflanzen. Dass hier Themen künstlerisch und journalistisch verarbeitet werden, die sonst den Kreis des Wissenschaftlichen oft nicht verlassen, macht Stadtaspekte sympathisch. Vielleicht fehlt noch etwas die konzeptionelle Schärfe und ein wenig Mut, damit nicht nur gezeigt wird, was gerade hipp ist: Brachen, Geo-Cacher, Detroit, Sonnenallee. Aber bitte, das lässt sich ändern. Bis zum 1. März können wieder Beiträge vorgeschlagen werden.

dérive, die Zeitschrift für Stadtforschung aus Wien, hat die Pionierphase hinter sich. Heft 1 erschien im Juli 2000, nun ist die 50. Ausgabe erschienen. Herzlichen Glückwunsch. In mancherlei Hinsicht ist die dérive das, was Stadtaspekte zu vermeiden versucht: Eine manchmal knochentrockene Aufarbeitung städtischer Themen mitunter in einer Sprache, die dem Leser deutlich macht, dass er es hier mit hart erarbeiteten Inhalten zu tun hat. Sie hat ihre linke Orientierung nie geleugnet, hat das Image der mit geringem Budget gemachten Zeitschrift nie ganz aufgegeben, auch wenn man sich für die 40. Nummer ein Relaunch gegönnt hat. dérive will, dass man sich durchs Heft wie durch eine Stadt treiben lassen kann, aber eigentlich ist ihre Qualität vor allem, dass man hier findet, was sich sonst kaum mehr auftreiben lässt: eine intensive kritische, aktuelle Auseinandersetzung mit der Produktion der Stadt, ob als Aufwertung der Innenstädte oder in zwischenstädtische Lebensräume. Die Redaktion ist dabei hellwach auf der Suche nach neu sich bietenden Freiräumen wie nach jenen Kräften, die diese wieder schließen. Die Ausgabe 40 war ein Höhepunkt: Understanding Stadtforschung ist eine Pflichtlektüre, für alle, die sich mit dem Titel Stadtforscher schmücken wollen. Nun also die Nummer 50. Sie ist dem Thema der Straße gewidmet, als dem originären Ort für das Umherscheifen, wenn er auch nicht mehr das ist, was er für Baudelaire einmal gewesen ist. Und genau das ist das Spannungsfeld der Texte: Zwischen Entschleunigung, einer anhaltenden Hoffnung auf die politische Wirkung des öffentlichen Raums, einer "Morphologie der exzentrischen Bewegung", dem Orientierungsverhalten des Menschen und Ausflügen nach Indien. Erstaunlich vielleicht, dass dieses Heft etwas melancholisch geraten ist, dass dem Thema der smartphones und der geodatengestützten Orientierung, dem Verschränken des virtuellen und des realen Raums wenig Raum eingeräumt wird. Das aber ist angesichts dessen, was uns die dérive in fünfzig Ausgaben geschenkt hat, dann doch eine Lappalie.

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