Die Herausforderung der Wertschätzung

Christian Holl
23. Januar 2013

Würde man heute, wie Christian Welzbacher 2009, von der Nachkriegsmoderne als einer unterschätzten Epoche sprechen, man dürfte doch zumindest ein Fragezeichen dahinter setzen. Drei weitere neue Publikationen bestätigen, dass zumindest die Zahl derer wächst, die hoffen, es ließe sich "so manche hartnäckige Denkgewohnheit beseitigen" – dieses Potenzial sieht zumindest Bruno Reichlin in der Bewahrung des architektonischen Erbes der Nachkriegsmoderne. Er ist einer der Autoren im von Elise Feiersinger, Andreas Vass und Susanne Veit herausgegebenen Band "Bestand der Moderne".
Hier wird auf hohem Niveau darüber nachgedacht, was die Architektur dieser Zeit aus- und was den Umgang mit ihr schwermacht; Praxis und Selbstverständnis der Denkmalpflege werden kritisch befragt. Sechs Fallbeispiele aus Österreich, der Schweiz und Deutschland schließlich geben konkrete Antworten auf baupraktische Fragen. Es geht dabei um Grundsätzliches, etwa um die Frage des Erhaltungswerts: Liegt er im baukulturellen oder im ökonomischen? Mit welcher Haltung kann man dieser Architektur gerecht werden? Es wird erkennbar, dass gerade dieses Erbe Architekten zwingt, ihr Verhältnis zur eigenen Profession zu schärfen. Der Architekt solle, so nochmals Reichlin, aufhören, "die 'Schöpfung' mit der archaischen Idee des materiellen, sichtbaren, greifbaren und 'sperrigen' Objekts zu verbinden." Und Andreas Vass stellt fest: "Das Festhalten an der 'Authentizität des Originals' wird ohne klaren geschichtlichen Bezug eines gegenwärtigen Standpunkts zu einer reinen Fiktion". Dafür sind wahrlich "hartnäckige Denkgewohnheiten" in Frage zu stellen.

Wie wenig mit pauschalen Vorurteilen der Architektur der Nachkriegsmoderne gerecht zu werden ist, bestätigt sich einmal mehr mit dem Blick über die Grenzen. Der Katalog zur Ausstellung "Italo modern – Architektur in Oberitalien 1946–76" ist eine wahre Fundgrube. Der Architekt Martin Feiersinger und sein Bruder, der Künstler Werner Feiersinger, haben in einer jahrelangen Recherche ein Kompendium an Gebäuden aus Oberitalien zusammengestellt, das im letzten Jahr ausgestellt und als Katalog verlegt wurde. Der Schwerpunkt dieser Leidenschaft liegt auf experimentellen, ausdrucksstarken Objekten unterschiedlicher Gruppierungen, monumentale Großformen sind darin ebenso zu finden wie Industriebauten und Einfamilienhäuser, aus der Faszination für Fertigteile entwickelte Konzepte ebenso wie organische Unikate – viele von einem bisweilen verblüffenden Erfindungsreichtum. Der mit der Architektur Oberitaliens weniger Vertraute wird sich über dieses Buch ebenso freuen wie der Kenner; dieser über die Wertschätzung, die sich in den Bildern und der Berücksichtigung auch abgelegenerer Gebäude ausdrückt; jener darüber, mit so manchem überrascht zu werden, das in auf große Linien bedachten Übersichten ausgeblendet wird. Mich erstaunt lediglich, dass das Architektenduo Figini und Pollini von den Feiersingers nicht beachtet worden sind.

Ein weiteres, wenn auch möglicherweise nach der Ausstellung CCCP von Fréderic Chaubin im Karlsruher ZKM nicht mehr ganz so leicht zu äußerndes Vorurteil wird der Architektur der ehemaligen Sowjetunion entgegengebracht: Sie sei "technokratisch und ohne jeden ästhetischen Anspruch", so Dietmar Steiner im Vorwort zu "Sowjetmoderne 1955–1991". Der Katalog zur Ausstellung im AzW, die dort noch bis zum 25. Februar zu sehen ist, widerlegt dies eindrucksvoll. Die lange Recherche, die dem Katalog zugrunde liegt, konzentriert sich auf die Staaten der ehemaligen Sowjetunion, die heute selbständige Staaten sind – Russland wurde dabei ausgespart; aus pragmatischen Gründen zum einen, zum anderen, weil man den Wurzeln einer lokalen Moderne nachspüren wollte. Das ist eindrucksvoll gelungen. Zeichnungen, Bilder aus der Entstehungs- wie aus jüngster Zeit, Berichte über die Besuche des Forschungs- und Kuratorenteams vor Ort sowie Essays ausgewiesener Kenner geben einen ausführlichen Einblick in Vielfalt und Mechanismen der Architekturproduktion der poststalinistischen Ära. Dies alles ist verbunden mit der Anlage eines Archivs als Grundlage einer wissenschaftlichen Forschung, die damit angestoßen und vorangetrieben werden soll. Die Zeit drängt, so Dietmar Steiner im Vorwort: "Viele der Bauten, deren architektonischer und kulturhistorischer Wert noch nicht allgemein erkannt wird, sind gefährdet." Aktuelle Bilder bestätigen dies.

Und dass diese Einschätzung beileibe nicht nur für die Architektur der ehemaligen Sowjetunion gilt, zeigt eine Meldung, die uns letzte Woche erreichte: In Skopje, der Hauptstadt Mazedoniens, ist die Hauptpost, ein Gebäude von Janko Konstantinovski aus den 1970er Jahren, ausgebrannt. Angesichts der Bestrebungen, das moderne Erbe Skopjes hinter aufgeblasenem Monumeltalklassizismus zum Verschwinden zu bringen, fällt es schwer, an einen Zufall zu glauben.

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