Der deutsche Herbst

Ursula Baus
21. November 2012
Fotografie von Andreas Magdanz im Kunstmuseum Stuttgart 

Am 9. Mai 1976 erhängte sich Ulrike Meinhof in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Stuttgart-Stammheim – ein bis heute umstrittenes Ende. Am 18. Oktober 1977 setzten Andreas Baader, Grudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe ihrem Leben ein Ende. Helmut Schmidt war Bundeskanzler, Gerhart Baum war unter Werner Maihofer noch parlamentarischer Staatssekretär und ab dem 8. Juni 1978 Minister im Innenministerium, Otto Schily Wahlverteidiger von Gudrun Ensslin. Die "Nacht von Stammheim" deutete auf das Ende eines Widerstands, der in seiner kriminellen Konsequenz nicht geduldet werden durfte. Die Generation der Rote Armee Fraktion (RAF) hatte das erzkonservative Nachkriegsdeutschland in ihren rechtmäßigen Anfängen breit und fair attackiert, nicht zuletzt Ulrike Meinhof war eine geachtete Journalistin, bis sich die Gruppe um Baader und Meinhof radikalisierte und schließlich das Land terrorisierte. Die Bundesrepublik rüstete damals in der Abwehr nach innen erschreckend und unverhältnismäßig auf – die Geburtsstunde des Überwachungsstaats schlug. Gerade deswegen bleibt unbegreiflich, wieso die entsprechenden Stellen die NSU über ein Jahrzehnt unbeachtet ließ. Es stimmt: Die Republik ist in Teilen immer noch auf dem "rechten Auge" blind.

Fotografie von Andreas Magdanz im Kunstmuseum Stuttgart 

Die JVA Stammheim, die 1963 gebaut wurde und heute so aussieht wie vor 35 Jahren, soll 2013 abgerissen werden. Der Fotograf Andreas Magdanz nahm sich nun zwei Jahre Zeit, um diesen geschichtsträchtigen Ort zu dokumentieren. Er zog für fünf Monate in ein benachbartes Haus und las über diese Zeit, was immer er fand. Inzwischen ist er der Ansicht, dass der "deutsche Herbst" (1977) für die heutige innenpolitische Struktur, ja, für die gesamte politische Kultur in Deutschland entscheidend war – mehr noch als der Fall der Mauer.
Andreas Magdanz begann seine fotografische Erkundung der JVA im Keller und erschloss sich die Räume der JVA sukkzessive bis zum legendären "7. Stock", wo die RAF eingesperrt war und fast so etwas wie eine WG bildete. Die zum Teil sehr großen Fotografien werden im Erdgeschoss des Stuttgarter Kunstmuseums präsentiert, das "Haus der Geschichte Baden-Württemberg" lehnte die Ausstellung auf Anfrage des Fotografen ab. Einerseits führen die Fotografien Magdanz' eindrucksvoll vor Augen, wie trostlos und lähmend eintönig die Räume der JVA waren. Andererseits offenbart aus heutiger Sicht die Banalität der Stammheimer Architektur die Hilflosigkeit einer Gesellschaft, die sich selbst nicht geheuer war.
Andreas Magdanz kann man vielleicht auch als fotografierenden Historiker bezeichnen. Andere Projekte – "Dienststelle Marienthal" (2000), "BND-Standort Pullach" (2005) und "Vogelsang" (2008) – erklären die Frage, die sich der Fotograf immer wieder stellt: "inwieweit diese sichtbaren Orte kollektives Gedächtnis und gesellschaftliche Praxis in sich tragen".
Der damalige OB Stuttgarts, Manfred Rommel, sorgte 1977 dafür, dass Ensslin, Raspe und Baader ein normales Begräbnis zuteil wurde. "Irgendwo muss jede Feindschaft enden", sagte Rommel, "und für mich endet sie in diesem Fall beim Tod". Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe wurden am 27. Oktober 1977 in einem Gemeinschaftsgrab auf dem Dornhaldenfriedhof in Stuttgart beigesetzt. Die Politik entschied zu dieser Zeit noch weltanschaulich und wertemäßig angreifbar. Politische Entscheidungen heute wirken dagagen in ihrer ökonomischen Vordetermination ärmlich und willkürlich. Auch darüber kann man sich in der Ausstellung seine Gedanken machen – und damit den künstlerisch-dokumentarischen Wert der Architekturfotografie anerkennen.

Fotografie von Andreas Magdanz im Kunstmuseum Stuttgart 

Zeitgleich mit dieser Ausstellung präsentiert das Kunstmuseum seine "neue Hängung" im Erdgeschoss. Von der Stammheim-Ausstellung fällt der Blick gen Norden in den Raum mit Kunstwerken K. H. Sonderborgs (Kurt Rudolf Hoffmann, 1923-2008), seit 1965 Professor an der Stuttgarter Kunstakademie: Dort hängt unter anderem dessen "Maschinengewehr" – auch Sonderberg konnte sich dem, was in Stuttgarts Vorort passierte, nicht entziehen. Die JVA Stammheim wurde im Anschluss auch für Häftlinge mit Migrationshintergrund genutzt.

Bis 3. März 2013 im Kunstmuseum Stuttgart, Schlossplatz; für Mitte Dezember ist das Buch von Hatje-Cantz angekündigt.

Bildreihe links, von oben: Luftbild der JVA; Innenhof; der Flur im 7. Stock; das "Krankenrevier" – leer, nur mit Abortstelle.

Fotografie von Andreas Magdanz im Kunstmuseum Stuttgart 
Fotografie von Andreas Magdanz im Kunstmuseum Stuttgart 

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