Das Nachleben von Vitruv

Ursula Baus
2. Mai 2012
orthographia, ichnographia und scaenographia – Vitruvs Gliederungen der dispositio begleiten die Architekturgeschichte bis heute. 

Wo, wenn nicht in Einsiedeln, wo sich die älteste erhaltene Vitruvübersetzung fand, sollte man über die Forschungslage zu Vitruv beraten? Vier Tage lang standen verschiedene Aspekte der Vitruvforschung zur Diskussion, wobei es hier nur um die Sektion des "Nachlebens von Vitruv" gehen soll, genauer gesagt: darum, was über die Jahrhunderte aus Vitruvs "dunklen Texten" gemacht wurde.
Wo sich Architekten hierzulande noch ein Buchregal mit Büchern erlauben, dürfte am ehesten "der Fensterbusch" zu finden sein – jene Übersetzung, die Kurt Fensterbusch 1964 zum ersten Mal vorlegte und die inzwischen in 8. Auflage im Handel ist. Bis dahin galt die Übersetzung von August Rode, der sich Martin Pozsgai widmete. 1796 auf zwei Bände bei Göschen in Leipzig erschienen, gilt sie als zweite deutsche Übersetzung nach Rivius (1548). Als lateinische Fassung hatte Rode, Rechtswissenschaftler, Gelehrter und Lehrer des Sachsen-Anhaltinischen Erbprinzen, Galianis Vitruv-Ausgabe von 1758 benutzt; gekannt hat er auch aus Wolfenbüttel die Ausgabe von Fra Giocondo. War Rivius, dem Cesarianos Vitruv von 1521 vorlag, noch ausschmückend und ausführlich vorgegangen, übersetzte Rode stringent und fließend. Die Verwissenschaftlichung Vitruvs rückt in den Vordergrund, wobei ein Illustrationsband von Rode erst 1801 erscheinen konnte.
Elke Katharina Wittich referierte über Alois Hirt, der selbstbewusst eine Art "Neustart" in der Vitruvforschung gefordert hatte und mit zwei Büchern – Die Baukunst nach den Grundsätzen der Alten (1809) und Geschichte der Baukunst der Alten (1821) eigene Maßstäbe setzte.
Die Annäherung an die Gegenwart begann mit Berthold Hub, der Erich Stürzenackers Vitruv-Ausgabe von 1938 untersucht hatte. Stürzenacker, ausgeprägter Rassist und Antisemit, nutzte die Vitruv-Ausgabe dazu, die Architektur der Nationalsozialisten in einen direkten Bezug zum Altertum zu setzen, die "Geschlossenheit des Kulturausdrucks" zu propagieren und dafür die Rolle einer Führerpersönlichkeit zu betonen. Von Perikles über Augustus direkt zu Hitler. Bemerkenswert ist, dass in der Vitruv-Ausgabe Stürzenackers zum ersten Mal nicht nur Zeichnungen, sondern auch Fotografien als Illustration auftauchen. So dienen zur diffusen Vitruv-Veranschaulichung auf einmal auch Troosts Haus der Kunst in München oder auch Machs Olympiastadion in Berlin. Grotesk: Nach dem Krieg taucht Stürzenacker kaum noch auf, aus den 1950er Jahren ist beispielsweise eine Veröffentlichung keramischer Verblendung von Fassaden von ihm nachweisbar.
Gern hätte man noch den angekündigten Vortrag "Vitruv heute" von Jasper Cepl gehört – der fiel leider aus.
Der Bibliothek Oechslin fehlt leider die finanzielle Kraft, alle Veranstaltungen in Büchern oder Periodika zu dokumentieren. Nun bietet das Internet vielleicht die Chance, hier andere Dokumentationsformen anzubieten, um breitere Kreise an den Diskursen teilhaben zu lassen.
Eine abgeschlossene Wissenschaftsgeschichte kann es bekanntlich nicht geben, so dass die kontinuierliche Auseinandersetzung mit erarbeitetem Wissen und ständigem Hinterfragen von Gewissheiten einher gehen sollte. Das leistet die Bibliothek Oechslin seit ihren Anfängen .

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