Transformation und Bestandserhalt

ASTOC ARCHITECTS AND PLANNERS mit bauchplan ).( landschaftsarchitekten und stadtplaner
21. Februar 2024
Blick über die Blau (Visualisierung: ASTOC Architects and Planners / bauchplan ).( landschaftsarchitekten und stadtplaner)
Das ehemalige Blautal-Center in Ulm steht zur Disposition und vor einer grundlegenden Transformation. Welche Ausgangssituation haben Sie vorgefunden?

Wir haben eine erst 25 Jahre alte, voll intakte Shopping Mall vorgefunden – ein Gebäude von immerhin rund 500 x 100 Meter Ausmaß. Ich komme aus der Ulmer Gegend und kann mich noch gut an die Eröffnung erinnern. Das Gebäude ist schon mehr oder weniger leergezogen; in einem bereits geplanten ersten Bauabschnitt an der Ostseite sollen die verbliebenen Märkte zukünftig im Erdgeschoss unter einer aufgesetzten Wohnbebauung verbleiben. Es gab diesbezüglich schon einen Teilentwurf, den es zu integrieren galt. Die Lage im Kontext einer Reihe von weiteren großvolumigen Handels- und Gewerbebauten von Baumärkten bis Ikea und den riesigen Parkplatzflächen an der stark befahrenen Blaubeurer Straße war trotzdem auf den ersten Blick eine große Herausforderung, wenn man an ein Wohnquartier denkt. Aber die erfolgreiche Entwicklung des Stadtregals gegenüber als Pionier der Transformation und natürlich die Lage an der Blau, die wiederum mit dem begleitenden Fahrradweg eine direkte Anbindung an die Innenstadt ermöglicht, waren definitiv Potenziale. 

Lageplan (Zeichnung: ASTOC Architects and Planners / bauchplan ).( landschaftsarchitekten und stadtplaner)
Wie fanden Sie zum vorgeschlagenen Gesamtbild?

Dadurch, dass wir mindestens das Untergeschoss erhalten sollten, mussten wir von Beginn an mit der gesamten Tragwerksstruktur und dem Stützenraster aus Betonfertigteilelementen arbeiten – es war fast eine Art Schiffe versenken zu Beginn. Anders als der Titel des Verfahrens es vermuten ließ, also keine rein städtebauliche, sondern von Beginn an auch eine architektonische Aufgabe. Für uns war schnell klar, dass wir mehr als das Untergeschoss in das neue Quartier integrieren wollen, also haben wir uns der Aufgabe aus zwei Maßstabsebenen genähert: Städtebaulich war klar, dass wir den bestehenden Entwurf des östlichen Teils nicht negieren, sondern aktiv einbeziehen wollen, dass wir die ehemals warme innere Magistrale mit dem Foodcourt der Mall als Zentrum auch zukünftig im Freiraum ablesbar bleiben sollte – die DNA sollte spürbar bleiben. Aus der Blockadehaltung des geschlossenen Baukörpers haben wir ein in alle Richtungen vernetzendes Quartier gemacht mit unterschiedlichen Gesichtern zur Blaubeurer Straße und zum grünen Raum der Blau. Dabei mussten wir architektonisch immer sichergehen, dass die Struktur statisch mit dem Raster funktioniert und durch die entstehenden größeren Tiefen der Baukörper auch in den Grundrissen sinnvoll zu lösen sind und eine schrittweise Realisierung möglich ist. Dabei bietet die bestehende Skelettstruktur im Erdgeschoss und 1. Obergeschoss, beinahe wie in Corbusiers Maison Domino, am Ende den Luxus freier Grundrisse und ungewöhnlicher Geschosshöhen, der als alternative Typologie die Neubauten auflädt und die man heute so wohl nicht planen würde, beziehungsweise dürfte. 

Transformation und Bestandserhalt (Piktogramm und Zeichnung: ASTOC)
Wie organisieren Sie das Blau.Quartier?

Durch die erhaltene riesige Tiefgarage im Untergeschoss haben wir das Quartier oberirdisch konsequent autofrei konzipiert, sogar die Feuerwehr konnten wir aus dem Innenbereich raushalten. Gastronomie, Dienstleistungen und Gemeinschaftsangebote liegen an der Nordseite zur Blaubeurer Straße und am zentralen Quartiersplatz und bespielen dort die Erdgeschosse. Die Wohnnutzung orientiert sich nach innen bzw. nach Süden zur Blau. Zwei Kitas nutzen erhaltene Bestandserdgeschosse. Verkehrlich betrachtet erlaubt die günstige Lage am Bahnhof Söflingen und die Nähe zu Innenstadt und Hauptbahnhof einen mutigen Modal Split. Im vorhandenen Untergeschoss können zwar Stellplätze für circa 870 PKW und circa 2.000 Fahrräder nachgewiesen werden, wir glauben jedoch an eine weitere Reduzierung der KFZ-Stellplätze durch ein umfassendes Mobilitätskonzept. So könnten weitere Flächen für Tiefhöfe, Nebenflächen der oberirdischen Nutzungen genutzt werden, auch Angebote wie Gemeinschaftswerkstätten oder Ähnliches sind denkbar. Eine neue Fahrrad-Zufahrt wird direkt vom Radweg am Blauufer eingerichtet, die Fahrradräume sind jeweils in Hausnähe vorgesehen. Jedes Haus erhält mit einem Kern Anschluss an die Tiefgarage, die beiden großen Bestandsöffnungen aus der Tiefgarage in die Mall bleiben erhalten und führen nun ins Freie. Rings um das Quartier wird ein Erschließungsweg im Shared Space geführt, der für Rettungsdienste und zu Anlieferungszwecken eingeschränkt befahrbar ist. Hier liegen auch die Adressen der Häuser. Die Versorgung der Gewerbe- und Gastronomieflächen erfolgt überwiegend auf der Nordseite, bedarfsweise kann auch der zentrale Platz mit leichten Lieferfahrzeugen befahren werden.

Blick über den Hof (Visualisierung: ASTOC Architects and Planners / bauchplan ).( landschaftsarchitekten und stadtplaner)
Welches architektonische Thema war Ihnen besonders wichtig?

Wir wollten neben der beschriebenen Wiederverwendung von Materialien im Freiraum möglichst viel des konstruktiven Bestands auch in die neuen Gebäude integrieren – und dies im architektonischen Auftritt mit einer gewissen Selbstverständlichkeit abbilden. Wir finden gerade die Überlagerung der Aufstockungen über den beiden maximal zu erhaltenden Bestandsgeschossen und dessen Widerspiegeln in Konstruktion und Fassade sehr interessant. Bestehende Treppenanlagen aus dem Einkaufszentrum sollen ebenso an neuer Stelle eingesetzt werden wie die Holzkonstruktion des Glasdaches. Die für Wohnungsbau dann ungewöhnlich hohen Geschosse mit 5,25 bis 5,45 Metern Höhe ermöglichen einen neuen Typus. Dabei erfolgt der Ausbau in den Bestandsgeschossen thermisch entkoppelt, so dass das Bestandstragwerk nicht gedämmt werden muss. Alle Neubauten auf der Tiefgarage werden in Holztafelbauweise (unter der Hochhausgrenze) oder als Holzhybridbau errichtet. Die Zeilen an der Blaubeurer Straße werden aus Schallschutzgründen als Massivbauten ausgeführt. Die beiden Hochpunkte am Quartiersplatz erhalten eine den Bestand ergänzende Gründung.

Auch für uns als Büro hat das Projekt Vorbildcharakter für eine Zeit, in der Gebäude nicht mehr so einfach weggeworfen werden dürfen. Es ist vielleicht ein Vorbote einer neuen Art von Aufgabenstellung. Erhalt und Weiterverwendung möglichst großer Teile des Blautalcenters bringen eine eigene Poesie mit sich. Eine Balance aus unkonventionellen Lösungen und Materialien und vertrauten Lösungsansätzen bietet einen wirtschaftlichen Ansatz und eine eigenständige Atmosphäre. Die kurze Ära des Blautalcenters findet so – zumindest in dieser Hinsicht – ein Happy End. 

Konzept Nachhaltigkeit (Zeichnung: ASTOC)
Gibt es schon einen geplanten Fertigstellungstermin?

Wir gehen jetzt erstmal in die Überarbeitung für die Bauleitplanung, der erste Bauabschnitt ist hier schon weiter. Da der Komplex in Gänze aber bereits mehr oder weniger leer gezogen ist, besteht auch aus wirtschaftlicher Perspektive ein gewisser Druck weiter zu kommen. Die schwierigen Rahmenbedingungen für den Wohnungsbau begleiten natürlich auch dieses Projekt, wir hoffen aber, dass sich vor allem solche Vorreiterprojekte trotzdem durchsetzen können. 

Grundriss Erdgeschoss, Ausschnitt (Zeichnung: ASTOC Architects and Planners / bauchplan ).( landschaftsarchitekten und stadtplaner)
Blau.Quartier in Ulm
Sonstiger Wettbewerb
 
Auslobung: Blautal Grundstück GmbH, Berlin
Betreuung: FALTIN + SATTLER | FSW Düsseldorf GmbH
 
Jury
Prof. Jörg Aldinger, Stuttgart (Vors.) | Tim von Winning, Bürgermeister für Stadtentwicklung, Bau und Umwelt der Stadt Ulm | Stv. Carola Christ, Stadt Ulm | Prof. Gesine Weinmiller, Berlin | Prof. Stefan Werrer, Stuttgart | Prof. H.P. Ritz Ritzer, München | Prof. Carsten Lorenzen Berlin/ Kopenhagen DK | Ole Saß, Berlin | Christian Diesen, HLG Real Estate GmbH & Co. KG | Gerlinde Ritouet-Steiner, DLE Land Development GmbH | Annette Weinreich | Stv. Klaus Kopp | Winfried Walter | Dorothee Kühne | Ralf Milde
 
1. Rang
ASTOC ARCHITECTS AND PLANNERS GmbH, Köln
zusammen mit bauchplan ).( landschaftsarchitekten und stadtplaner partnerschaft mit beschränkter berufshaftung, München
 
2. Rang
ADEPT, Kopenhagen, Hamburg
 
3. Rang
Cobe A/S, Nordhavn

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