Lernen von Chandigarh

Susanna Koeberle
21. Februar 2024
Teil des »Capitol Complex« von Chandigarh (Foto: Filmstill aus »Kraft der Utopie. Leben mit Le Corbusier in Chandigarh«)

Als Thomas Karrer und Karin Bucher 2015 während einer Indienreise die berühmte Planstadt Le Corbusiers besuchten, führte sie zunächst genuine Neugierde in die Provinzhauptstadt der Bundesstaaten Punjab (seit 1953) und Haryana (seit 1966). Dass die beiden Schweizer Filmemacher dereinst einen abendfüllenden Dokumentarfilm über Chandigarh drehen würden, wussten sie damals noch nicht. Das Foto eines ikonischen Bauwerks in einer Architekturzeitschrift hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Hier kamen die europäischen Ideale der Moderne mit dem indischen Alltag der Gegenwart zusammen. Es trafen damit auch zwei Epochen zusammen. Denn seit der Grundsteinlegung im Jahre 1952 sind immerhin über siebzig Jahre vergangen. Für eine halbe Million Menschen entworfen, hat sich die Bevölkerung seither verdreifacht. Diese Brücke zwischen unterschiedlichen Maßstäben, Zeiten, Welten und Vorstellungen ist es denn auch, was den Film »Kraft der Utopie. Leben mit Le Corbusier in Chandigarh« kennzeichnet. Der Begriff des Labors, den Karrer und Bucher gerne verwenden, unterstreicht ihre Absicht, mit diesem Film etwas Dynamisches zu dokumentieren. Den beiden geht es dabei nicht um Wertung, wie sie im Gespräch sagen. Sie verstehen sich als Beobachter und Beobachterin, die Widersprüche einer ihnen fremden Realität einfangen. Davon erhoffen sie sich, Menschen – sowohl in Indien als auch im Westen – zum Nachdenken über ihren Lebensraum anzuregen. Und über Utopien. Dieses Wort scheint gleichsam aus der Zeit gefallen zu sein, denn wir scheinen heute kaum fähig zu sein, solche zu formulieren, auch wenn sie uns Halt geben könnten angesichts multipler globaler Krisen. 

Thomas Karrer und Karin Bucher bei der Arbei am Film. (Foto: Mit freundlicher Genehmigung der Regisseurin/des Regisseurs)

Veränderungen sind möglich, das beweist gerade Chandigarh und seine Geschichte. Dies trotz der Tatsache, dass Umgestaltungen vom Meister dieses »Werks« nicht vorgesehen waren. Mit einem Edikt sorgte der Architekt dafür, dass die Stadt auch künftig an seinen baulichen und urbanistischen Visionen festhalten sollte. Das hatte eine paradoxe Wirkung: Einerseits schützte diese Verfügung die Idee des Gesamtkunstwerks – Le Corbusier betrachtete Chandigarh als sein Lebenswerk– , andererseits widerspricht sie dem natürlichen Lauf der Dinge. Dass Städte nämlich wie Organismen sind, dass sie sich eben verändern. Um noch ein Paradox draufzusetzen: Le Corbusier hatte »seine« Stadt ja genau als lebendiges Wesen konzipiert: als Mensch. Mit einem Regierungszentrum beim Kopf, Adern als Straßen und Grünflächen als Lungen. Seine Stadt basierte auf der Utopie einer humanen Stadt; sie war zudem bewusst als Gartenstadt angelegt. Diese Hintergründe erfahren wir auch beim Anschauen des Films, wir werden auf eine Zeitreise mitgenommen, die von den Anfängen der Stadt erzählt. »Kraft der Utopie« ist so gesehen auch eine Geschichtslektion. Und sie ist interessanterweise ebenso mit unserer westlichen Geschichte verbunden – Stichwort Kolonialismus. 

Mit Chandigarh verwirklichte Le Corbusier sein Lebenswerk. (Foto: Filmstill aus »Kraft der Utopie. Leben mit Le Corbusier in Chandigarh«)

Frappant ist die Tatsache, dass die indische Regierung nach der Teilung von Britisch-Indien in Pakistan und die Demokratie Indien im Jahr 1947 nach ausländischen Architekten Ausschau hielt, die den Auftrag bekommen sollten von Grund auf eine neue Stadt zu entwerfen. Das zeigt, wie stark viele Länder auch nach Ende der Kolonialherrschaft von westlichen Normen und Werten geprägt waren – und es bis heute noch sind. Nachdem Albert Mayer und Matthew Nowicki einen ersten Masterplan entwickelt hatten, der nicht zur Ausführung kam, rekrutierten zwei indische Regierungsbeamte in Europa ein neues Team, das 1950 zustande kam. Es setzte sich aus Le Corbusier, der die Führung für das Projekt übernahm, aus seinem Cousin Pierre Jeanneret sowie dem britischen Architektenpaar B. Maxwell Fry und Jane Drew zusammen. Wobei der Teamaspekt erst im Verlaufe des Films beleuchtet wird. Zunächst konzentriert sich die Erzählung auf den visionären Wurf Le Corbusiers. Und das war er in der Tat, das muss man dem bedeutenden Architekten, dessen Ansichten auch kontrovers diskutiert werden, lassen. Seine Bauten beeindrucken noch heute. Ebenso muss man dem Architekten, Künstler und Städteplaner zugutehalten, dass er etwas von öffentlichem Raum und seiner Nutzung verstand. Die Lebensqualität in Chandigarh wird von allen Protagonist*innen des Films als hoch eingestuft; auch Karrer betont etwa, dass der Verkehr im Gegensatz zu vielen anderen indischen Städten mehrheitlich staufrei funktioniere. Das städteplanerische Projekt ist so gesehen durchaus ein Erfolg. 

Die Bewohner*innen von Chandigarh nennen ihre Stadt »city beautiful«. (Foto: Filmstill aus »Kraft der Utopie. Leben mit Le Corbusier in Chandigarh«)

Der Film lässt mehrere Zeitzeugen und Bewohner*innen zu Wort kommen, wobei die meisten entweder in der Architektur oder im Kulturbereich tätig sind. Die Stadt scheint von Anfang an, ein fruchtbarer Humus für Kultur gewesen zu sein. Was heute ist, steht auf einem anderen Blatt geschrieben. Immer mehr mischen sich auch kritische Stimmen in den architektonischen und politischen Diskurs. Der sogenannte »Capitol Complex« mit den Regierungsgebäuden etwa – seit 2016 Unesco Weltkulturerbe –  ist seit einem Attentat nicht mehr öffentlich zugänglich. Viele Bewohner*innen der Stadt wissen nicht einmal davon. Das bemängelt auch eine Hauptprotagonistin des Films, die Architektin Deepika Gandhi. Mittlerweile hat sie ihre Stelle als Direktorin des »Le Corbusier Center« verloren. Das spricht Bände. Doch es geht dem Regisseur und der Regisseurin wie bereits gesagt nicht darum, über die indische Gesellschaft und ihre Besonderheiten zu urteilen, vielmehr sind sie an den Reaktionen des Publikums in ihren Breitengraden interessiert. Indirekt adressiert der Film nämlich auch unser Bauwesen. Dieses ist nicht gerade für Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit bekannt. Der Film führt vor, wie Architektur dazu beitragen kann, menschliches Zusammenleben zu formen oder zumindest Visionen dafür zu entwickeln. Utopien mögen zum Scheitern verurteilt sein, das ist vielleicht sogar ihr Wesen. Aber bekanntlich lernt der Mensch aus Fehlern am meisten. 

Einblick in das Alltagsleben der Stadt. (Foto: Filmstill aus »Kraft der Utopie. Leben mit Le Corbusier in Chandigarh«)

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