Wendezeiten

Autor:
ch
Veröffentlicht am
Feb. 22, 2012

 
 
 
 
Zwei sehenswerte Ausstellungen in Frankfurt am Main setzen sich auf unterschiedliche Weise mit den Zusammenhängen von Politik, Repräsentation und Kunst auseinander – die eine widmet sich dem "Aufstieg der forensischen Ästhetik", die andere zeigt anhand historischer Dokumente und zeitgenössischer künstlerischer Positionen die Erschütterung und die Justierung normativer Ordnungen als Aushandlungsprozesse im öffentlichen Raum.
Die umfangreiche Ausstellung "Demonstrationen" im Frankfurter Kunstverein, eingebunden in das Exzellenzcluster Normative Ordnungen der Goethe-Uni, zeigt Bilder von Demonstrationen und politischer Gewalt, die zum historischen Gedächtnis der Gesellschaft gehören. Dazu gehört das harte Erkämpfen bürgerlicher Grundrechte im 19. Jahrhundert wie die des (anhaltenden) Kampfs um die Gleichberechtigung der Frau. Arbeiten zeitgenössischer Künstler setzen die historische Perspektive in Bezug zum aktuellen Zeitgeschehen, zeigen die räumlichen Konstellationen und die semantischen Machtmanifestationen von Herrschenden und Aufbegehrenden; Gewalt und Repression sind dabei ebenso präsent wie die Frage nach dem politischen Potenzial, das in normiertem Arbeits- und Freizeitverhalten stecken könnte. Dass wir teilweise verlernt haben, den politischen Gehalt bekannter Darstellungen zu verstehen und sie nur noch als autonome Kunst rezipieren, thematisieren die Arbeiten Jana Gunstheimers: Goyas Erschießung der Aufständischen wird als Erschießung eines Gemäldes, die Verletzungen des Bildes durch 14 Schüsse in Ausschnitten gezeigt.

Die faszinierende Ausstellung "Mengele's Skull" (Mengeles Schädel) im Portikus auf der Alten Mainbrücke konzentriert sich auf die neuen forensischen Techniken, die zur "Ablösung einer Ära führte, in der Zeugenschaft und Trauma eine zentrale Rolle spielten" (Pressetext). Die Ausstellung zeigt die Inhalte einer im gleichnamigen Buch dokumentierten Arbeit von Thomas Keenan und Eyal Weizman (beide waren Gastprofessoren an der Städelschule), in der die Geschichte der Identifizierung von Mengeles Schädel mithilfe neuer dreidimensionaler Techniken aus dem Jahr 1985 nachvollzogen wird. Diese Techniken haben sich seither rasant weiterentwickelt und mit dem Erfolg der neuen Methodik auch eine neue Ästhetik der Rekonstruktion von Ereignissen etabliert, die rückwirkend Verbrechen öffentlich machen und damit Einfluss auf nationale Politik nehmen können. Weizman hatte dieses Potenzial auch im Zusammenhang mit der Siedlungspolitik Israels erkannt. In Spanien oder Guatemala werden Leichen exhumiert, um Aufschluss über die Vergangenheit zu gewinnen. Die neue forensische Ästhetik hebt die Grenzen zwischen Lebenden und Toten auf, verschiebt den Schwerpunkt der Ermittlung von der Zeugenschaft auf die Gebeine und verwischt die Trennung zwischen Subjekten und Dingen. Im Hauptraum des Portikus' rekonstruiert Hito Steyerl ein bis heute nicht vollständiges Ereignis aus dem Bosnienkrieg von 1993. Trotz neuer Methoden bleiben Zweifel und öffnen neue Räume für Mythen und Interpretationen.


Mengele's Skull, The Advent of a Forensic Aesthetics
Hito Steyerl, Thomas Keenan, Eyal Weizman, Paulo Tavares
Portikus Frankfurt am Main
Bis zum 6. Mai
Das zur Ausstellung publizierte Buch ist zum Preis von 15 Euro im Portikus Buchladen sowie bei Sternberg Press erhältlich.

Demonstrationen. Vom Werden normativer Ordnungen
Frankfurter Kunstverein in Zusammenarbeit mit der Goethe-Universität Frankfurt am Main
Die Ausstellung wird begleitete von Performances im Stadtraum und einem umfangreichen Begleitprogramm.
Bis zum 25. März
Der Katalog ist im Verlag für Moderne Kunst (Nürnberg) erschienen und kostet in der Ausstellung 25 Euro