Traditionalismus und Avantgarde

Autor:
Robert Kaltenbrunner
Veröffentlicht am
Okt. 12, 2011

Im Magazin 35|2011 widmete sich Robert Kaltenbrunner dem Verhältnis von Retrokult und Massenkultur. Im hier folgenden zweiten Teil seiner Analyse eines Zeitgeistphänomens untersucht er, ob sich der Traditionalismus für eine neue Theorie der Avantgarde eignet.
 
Ludwig Wittgenstein, der als Philosoph wie kaum ein anderer eine Leidenschaft für die Baukunst an den Tag legte, hat einmal folgende kleine Begebenheit notiert: "Ich kam nach Hause und war sicher, eine Überraschung zu finden. Es gab keine Überraschung für mich, was mich natürlich überraschte." Ganz ähnlich ließe sich die Rezeption einer nicht unerheblichen Tendenz heutiger Architektur beschreiben: Der "neue Traditionalismus", dem nicht nur die bekannten Verdächtigen wie Prince Charles und die Brüder Krier, sondern mehr und mehr auch die Kleihues‘, Kollhoffs und Kahlfeldts ihre Reverenz erweisen. Wie selbstverständlich stehen sie nun da, in Berlin und andernorts: Klassizistisch angehauchte Villen von einer gewissen architektonischer Qualität, frei von postmoderner Ironie und – zumindest für den Laien – identifizierbarer Zeitgenossenschaft. So what?

Traditionalismus als neue Avantgarde?
Betrachten wir den selbstbewusst-unspektakulären "neuen Traditionalismus" in einem größeren Kontext. Von der Urban Renaissance eines Gabriele Tagliaventi über das englischen Poundbury bis zum amerikanischen New Urbanism zieht sich ein Netz zusammen, in das ein recht distanzloses Verhältnis zur Vergangenheit tief eingewoben ist. Geht es bei diesem Traditionalismus nur um ein ästhetisches Leitbild? Eigenheime am Stadtrand, wo die Dächer walmen und satteln, die Fenster sprossen und die Balken sich gemütlich wie eh und je biegen, offenbaren es: Der Traditionalismus scheint keineswegs unzeitgemäß. Er versammelt die Modernisierungsverängstigten und Flüchtlinge der gesellschaftlichen Umstrukturierung – aber nicht nur diese. Bildet sich hier eine neue architektonische "Avantgarde" heraus, die die Massenkultur bedienen und sich zugleich von ihr abheben will? Muss sie nun neu geschrieben werden, die Theorie der Avantgarde?
 
Zeitgeist und Architektur
Bereits seit die Postmoderne das Sein zu einer Frage des Designs erklärte, gilt das allzu Schöne nicht mehr als Kitsch. Mitunter wird das so genannte Schöne sogar zum Rest des Authentischen aufgewertet. Wer ein individuelles Glück im traditionellen, ästhetisch Gewohnten sucht und findet, scheint sich dem Herrschaftsanspruch der Systeme entgegen zu stemmen, die durch und durch rationalistisch daher kommen. Der Retro-Kult ist eine späte Reaktion auf die architektonisch-künstlerische Sachlichkeit, die angeblich in Utilitarismus, Anmutungsarmut und Unwirtlichkeit mündete. Der Retro-Kult wendet sich implizit gegen eine industrielle Massenkultur und bemüht vermeintlich zeitlose Ideale und Werte. Tatsächlich darf man bezweifeln, ob mit jeder gesellschaftlichen Veränderung auch die Formen des Wohnens und städtischen Zusammenlebens umgebildet werden müssen.
Nicht zuletzt deshalb plädiert zum Beispiel Vittorio M. Lampugnani seit langem für die Rückkehr zur "Normalität" im Bauen. Eine neue Bescheidenheit und Besinnung auf die Tradition sei für Architektur und Städtebau heute die angemessene Haltung.
 
Tradition, Einfachheit und Konvention
Zwei Begriffe, oder besser: Werte sind für diesen "neuen Traditionalismus" zentral. Der eine, "Einfachheit", ist keineswegs so eindeutig, wie er klingt. Als Illustration kann man die Haustür eines alten Bauernhauses bemühen, die ein solventer Besitzer sorgfältig und teuer in ursprünglicher Einfachheit restauriert. Grüßt hier der alte Mies van der Rohe: "Lasst uns einfach bauen, koste es, was es wolle"? Geht es um die Ästhetik des Einfachen oder um billige Produktionsmethoden?
Der andere Begriff heißt "Konvention". Er meint Vereinbarung und Herkommen. Teilen der intellektuellen und kulturellen Elite geht es um den Bestand unserer westlichen Kultur, oder genauer: um das, was wir angeblich verloren haben. Und natürlich geht es auch um die Definitionsmacht: Wer darf sich im Besitz der "historischen Wahrheit" wissen? Ganz in diesem Sinne hält der Architekt Hans Kollhoff eine "Rückbesinnung auf Werte, die lange verzichtbar schienen, und auf Konventionen, die als überlebt galten", für notwendig. Nicht gegen den Überfluss des Historismus müsse man sich heute wenden, sondern gegen die Banalisierung der Moderne. Wo Konventionen erodieren, müsse Architektur die "Rest-Konstanten gesellschaftlichen Zusammenlebens" bewahren helfen. Damit sind vor allem die gesellschaftlichen, künstlerischen und kulturellen Werte gemeint, die "dem hektischen Großreinemachen der zwanziger Jahre zum Opfer fielen". Was für ein Anspruch!
 
Die Baupraxis
Natürlich gibt es große Unterschiede, wie man solche Werte in die Praxis übersetzt. Wie neueste architektonische Bestrebungen ins formale Repertoire aufgenommen und zugleich regionale Bautraditionen aufgegriffen wurden, hat Julius Posener treffend als "wilhelminischen Kompromiss" bezeichnet. Etwas ganz ähnliches vollzog auch Fritz Schumacher in Hamburg: Er monierte schon 1935, ganze Stadtteile "verfielen der schäbigen Maskerade halbverstandener, billig imitierter Zierformen aus der Rumpelkammer aller erdenklichen Stile". So entwickelte er eine eigenständige Typologie von Lösungen. Und Bruno Taut, eines unkritischen Historismus sicherlich unverdächtig, notierte 1905 in seinem Tagebuch: "Wir Architekten gehen zur Tradition zurück. Weil wir einsehen, welche Geschmacklosigkeit durch das Opfern der guten alten Sitte im Bauen eingerissen ist." Seine Konsequenz lautete: "Darum wollen wir wieder an das gute Alte anknüpfen und daraus gutes Neues machen."

Entfremdungen
Tatsächlich müssen wir eine Entfremdung in der gebauten Umgebung feststellen. Beredt hat der amerikanische Stadtforscher Mike Davis auf die unterschwellige Angst und das Gefühl einer lauernden Bedrohung in den neuen, mit null Toleranz gesäuberten Stadträumen hingewiesen. Die abschreckenden Hinterlassenschaften unseres Bauwirtschaftsfunktionalismus, die Nicht-Orte (Marc Augé) und Brachen, der zerfaserte und hybride Stadtraum, die angeblich öffentlichen, tatsächlich videoüberwachten Räume, zerstückelte Baukörper und daneben die auf Hochglanz getrimmten Relikte der gebauten Vergangenheit, die kalte Unnahbarkeit von Unternehmens-Repräsentanzen, die Disfunktionalität vieler Vorzeigeplätze: All das ist nicht eben dazu angetan, Ruhe und Ortsbindung herzustellen oder so etwas wie "Heimat" zu schaffen.
Lässt sich dagegen nur das gute, alte Repertoire der Überlieferung ins Feld führen? Es hilft wenig, wenn sich gelegentlich bornierte, selbstsichere Architekten und Nutzer und Bewohner mit diffusen, übernommenen Wünschen unversöhnlich gegenüber stehen. Es darf ja wohl nicht wahr sein, dass am Ende der klassischen Moderne jener Kitsch stehen soll, gegen den sie einst angetreten war. Aber unabhängig von der Frage, ob Formalismus und Negativismus der späten Avantgarde selbst es waren, die das Bedürfnis nach neuer Schönheit und neuer Sinnlichkeit weckten: Es geht darum, die kulturelle Tragweite der Ästhetik (und der Architektur) soweit auszuloten und zu verändern, dass sie das Dasein nicht nur verschönert, sondern auch das Bewusstsein über dieses Dasein bearbeitet. Robert Kaltenbrunner

Der Autor arbeitet als Referent im BBR in Bonn und als freier Autor.