Warum bauen nicht alle so?

Falk Jaeger
9. 三月 2022
Philosophisches Institut (Foto © urban fragment observatory)

Als die jungen Architekten Jeanne Astrup-Chauvaux, Sebastian Diaz de Léon, Lena Löhnert und Florine Schüschke auf die Architektur von Inken und Hinrich Baller stießen und sich intensiver damit auseinandersetzen wollten, stellten sie fest, dass es keine Würdigung des Gesamtwerks gibt. So machten sie sich selbst an die Arbeit. Nun liegen die Ergebnisse ihrer von der Wüstenrot Stiftung, der Sto-Stiftung, der UdK und der AK Berlin geförderten dreijährigen Forschungsarbeit vor.

Inken Baller (geb. 1942 im dänischen Tondern) und Hinrich Baller (geb. 1936 im pommerschen Stargard) führten ab 1966 ein gemeinsames und nach ihrer Scheidung 1989 zwei getrennte Architekturbüros in Berlin. Beide gaben als engagierte Lehrtätige viele Jahre lang ihre Ideen an die nächste Generation weiter, er von 1972 bis 2001 an der HBK Hamburg, sie von 1985 bis 2007 an der GH Kassel und an der BTU Cottbus.
 

Kampf den Vorschriften

„Beiderseits der Spüle sind mindestens 0.60 m breite Arbeitsflächen vorzusehen; für die Arbeitsfläche zwischen Herd und Spüle ist eine Breite von 0,90 m anzustreben. […] Die Sockel der Unterschränke müssen mindestens in der Höhe der Scheuerleiste um mindestens 5 cm hinter der Vorderseite der Schränke zurücktreten.“ Derlei penible Vorschriften, abgedruckt im Katalog der Ausstellung, stammen aus den Förderrichtlinien des Sozialen Wohnungsbaus im Amtsblatt für Berlin vom 4. Mai 1973 und illustrieren beispielhaft, woran der Soziale Wohnungsbau krankte und wogegen Architekten wie die Ballers vehement ankämpften. Die kreative Interpretation der Förderrichtlinien, zum Teil auch deren Lockerung, war zu jener Zeit auch ein erklärtes Ziel der IBA 1984/87. Sonderlich erfolgreich waren die Anstrengungen nicht. Für Architekten und Bauträger ist es nach wie vor einfacher, entlang der Vorschriften nach Schema F Wohnungen zu produzieren.

Fraenkelufer, Torhaus
Für das Wohl der Bewohnerinnen und Bewohner

Die Ballers wollten keine Stückzahlen produzieren, sondern besannen sich mehr als andere Architekten auf ihre Aufgabe, Heimat und Lebensraum zu schaffen. Jeder Architekt beteuert: Ich baue für die Menschen. Verinnerlicht haben dieses Credo die wenigsten. Denn „für die Menschen“ heißt mehrheitlich „gegen die herrschenden Verhältnisse“, heißt stetiges, nervenaufreibendes Engagement beim Durchsetzen von Bewohnerbedürfnissen gegen einengende Bauvorschriften, eingefahrene Produktionsweisen, uninspirierte Behörden und dominante Geschäftsinteressen von Bauherren. Die Ballers ließen sich nie von der Überzeugung abbringen, dass das Wohl der Bewohnerinnen und Bewohner im Vordergrund stehen müsse. Dabei sind ihre Konzeptionen, ihre Grundrisse und ihre Gestaltung heute aktueller denn je in einer Zeit, da angesichts der Wohnraumknappheit jedes freie Grundstück besinnungslos mit banalen Blocks mit Standardwohnungen nach Schema F zugeklotzt wird und Neubauquartieren den Plattenbausiedlungen an Monotonie in nichts nachstehen.

Flexible, unkonventionelle Raumzuschnitte, hier und da sogar mit Höhensprüngen, raumhohe Fensterfronten, ausladende Balkons und Terrassen von üppiger Größe, Grün, das vom Hof die Wände hochwächst, gemeinschaftliche Begegnungsräume, all das, was den Architekturstudenten schon immer gelehrt wird, aber in der Praxis in Vergessenheit gerät, haben die Ballers den Verhältnissen vielfältig abgerungen und erfolgreich realisiert. 22 Wohnanlagen listet das Werkverzeichnis auf, bis auf eine Villa in der Schweiz und die Documenta urbana 1982 in Kassel alle im früheren West-Berlin, dazu zwei Sporthallen und zwei Kitas. Ihr Bau an der Lietzenburger Straße (1975) gehört zu den elegantesten, noch heute ansehnlichen innerstädtischen Wohnhäusern, die berühmte „Brandwandbebauung am Fraenkelufer“ zu den absoluten Highlights der IBA 1984/87. Üppig bewachsen, sehen die meisten der Bauten, zumindest im Sommer, wie traumhafte Oasen aus. Kaum zu glauben, dass sie fast alles im Rahmen des Sozialen Wohnungsbaus realisieren konnten.

Fraenkelufer Erdgeschoss (Innenhofplan © Inken Baller und Hinrich Baller)
Zwischen Kunst und Kunstgewerbe

Wenn Inken und Hinrich Ballers Architektur trotzdem nicht mehr Schule machte, hat das zwei Gründe. Die Ballers waren im Kollegenkreis eher Außenseiter, wenig vernetzt, unkonventionell, oft etwas schräg. Sie von zurückhaltender, dennoch eindringlicher Art. Er, hochgewachsen, offenes Seidenhemd, befranste Lederklamotten und Mokassins, war mit langen, wehenden Haaren in der Stadt auf dem Motorrad unterwegs und wurde als „Stadtindianer“ tituliert.

Eine exaltiertere Erscheinungsweise zeichnet auch die Bauten der Ballers aus. Schräg stehende Rundstützen, expressiv auskragende Balkone, Spitztonnendächer machen die Bauten interessant und heben sie aus dem Einerlei heraus. Kein reiner Formalismus allerdings, denn Hinrich Baller, der immer als Sprecher der beiden nach außen aufgetreten ist, weiß jedes Bauteil zu begründen. An den Projekten hatten beide gleichermaßen Anteil, wenngleich Hinrich ein wenig mehr als der Konstrukteur fungierte und erklärt, warum diese Stützen schräg stehen, warum jene Wand gebogen ist, welche Materialersparnis diese geschwungene Dachkonstruktion mit sich brachte und wie er mit einer gefundenen und umgebauten Maschine jene gewölbten Brüstungen betonierte. Hinrich Baller war Professor an der Uni und gleichzeitig immer auch Bauleiter vor Ort, darauf legte er Wert. Rein dekorativ freilich, (wenngleich Baller treuherzig auf die Kostenersparnis hinweist), sind die Geländer, die fast alle Ballerbauten schmücken, immer mintgrün lackiert, aus dünnen gebogenen Stahlstäben in ornamentalen, jugendstilähnlichen Formen zusammengeschweißt, irgendwo zwischen Kunst und Kunstgewerbe anzusiedeln. Das war in der hohen Zeit der Postmoderne möglich und blieb ihr Markenzeichen, Alleinstellungsmerkmal und für „seriöse“ Architektenkollegen ein No-Go.

Doppelsporthalle, Treppenhaus (Foto © urban fragment observatory)

Aber den Menschen gefällt es. Und den Bewohnern ohnehin. Es kommt ja vor allem auf die Qualität der Wohnräume an, und über die wurde selten groß berichtet. Umso verdienstvoller der Ansatz der Ausstellung, die sich ganz intensiv der Innenräume und der überzeugenden Wohnqualitäten annimmt und sie in Plan, Bild und Video ausgiebig dokumentiert.

Das Kuratorenteam, ufoufo – urban fragment observatory, wie sie sich als Kollektiv nennen, hat alle Bauten besucht und analysiert sowie Interviews mit Bewohnerinnen und Bewohnern geführt. So wurden die Ausstellung und der üppig bebilderte Katalog „Visiting Inken Baller & Hinrich Baller Berlin 1966–89“ (38 Euro) jenseits gängiger faktischer Architekturdokumentation zur Präsentation gelebter Architektur und zum Lese-, Bilder- und Lehrbuch, das man allen jungen Bauschaffenden an die Hand geben möchte.

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