Den großen Maßstab beherrschen sie

Falk Jaeger
18. 三月 2020
Ausstellungsansicht (Foto: © Erik-Jan Ouwerkerk)

Junge Architektinnen und Architekten in Russland haben wenig Aussicht auf eigenständige, kreative Arbeit, denn das russische Bauwesen ist nicht darauf eingerichtet, Jungen und Newcomern Einstiegsmöglichkeiten zu eröffnen. Kommerzielle Architekturfirmen beherrschen den Markt und ohne eine intensive langjährige Vernetzung in Partei- und Funktionärskreisen gibt es wenig Aussichten, an Aufträge zu gelangen. Die Absolventen der Architekturfakultäten, die mit frischen Ideen und Enthusiasmus ins Berufsleben starten wollen, sehen sich meist gezwungen, in abhängigen Arbeitsverhältnissen jene Kommerzarchitektur realisieren zu müssen, die sie an der Hochschule zu überwinden trachteten. Die engagiertesten und oft die besten unter ihnen wandern ins Ausland ab.

Sergei Tchoban möchte dagegen etwas tun und gründete gemeinsam mit Nataliya Fishman-Bekmambetova, einer Beraterin des tatarischen Präsidenten in Sachen Stadtplanung, die Russische Architekturbiennale für junge Architekten. Tchoban, der in Leningrad (St. Petersburg) geborene und ausgebildete Architekt, hatte selbst diese Erfahrungen gemacht. Er war im Jahr 1991 nach Deutschland gekommen. Mittlerweile ist er Partner im Büro tchoban voss (Hamburg Berlin Dresden), führt ein eigenes Büro SPEECH in Moskau und ist international erfolgreich. Bekannt ist er auch als Architekturzeichner – als Sammler und Förderer des Mediums der Architekturzeichnung hat er in Berlin ein eigenes Museum gebaut, die Tchoban Foundation.

Tchobans Idee war, talentierte russischen Kolleginnen und Kollegen ausfindig zu machen und ihnen im Rahmen einer Biennale mit Wettbewerb und Ausstellung eine Bühne zu bieten, auf der sie sich potenziellen Auftraggebern präsentieren können. Hinzu kam der Wunsch, die Vorherrschaft St. Petersburgs und Moskaus zu überwinden und junge Entwerfer aus ganz Russland zu fördern. Immerhin kommt knapp die Hälfte der Teilnehmer der zweiten Biennale nicht aus einer der beiden Metropolen.

Podiumsdiskussion zur Ausstellungseröffnung mit Philipp Meuser und Sergei Tchoban (Foto: © Erik-Jan Ouwerkerk)
Video-Statement im Rahmen der Eröffnung von Biennale-Direktorin Nataliya Fishman-Bekmambetova (Foto: © Erik-Jan Ouwerkerk)

Auch der Austragungsort der ersten Biennale für junge Architekten 2017 lag, von Nataliya Fishman-Bekmambetova initiiert, in der Provinz, in der Russischen Republik Tartastan.  Der Wettbewerb war für Teilnehmer aus allen ehemaligen GUS-Staaten offen. Sie sollten ein Architekturstudium abgeschlossen haben und russisch sprechen. Unter dem Motto „Wie wollen wir leben?“ war ein fiktives Gelände in der neugegründeten Stand Innopolis in Tatarstan zu beplanen. Die rund 300 Teilnehmer entwarfen unterschiedliche Konzepte für eine neue Lebensumwelt.
Der unter der umtriebigen Direktorin Nataliya Fishman-Bekmambetova durchgeführte Wettbewerb und die große Ausstellung wurden zur Erfolgsgeschichte. Der erste Preisträger wurde zum russischen Beitrag der Architekturbiennale in Venedig eingeladen. Die Preisträger und einige Finalisten erhielten Bauaufträge in verschiedenen Städten Tatarstan und konnten ihre Karriere starten. In der Folge war Tatarstan durch deren Projekte im gesamtrussischen Wettbewerb für Wohnungsbau in kleineren Städten und in historischen Innenstädten überdurchschnittlich erfolgreich.

Als der Wettbewerb zur Biennale 2019 neuerlich ausgelobt wurde, traten nicht nur Rustam Minnikhanov, der Präsident der Republik Tatarstan, sondern auch Maksim Egorov, der stellvertretende Bauminister der Russischen Föderation sowie Ilsur Metshin, der Bürgermeister von Kasan, als Schirmherren auf. Diesmal ging es um die Revitalisierung zweier Grundstücke in Kasan, ein zu konvertierendes Fabrikgelände und eine bislang mit Hafennutzung besetzte Halbinsel an der Wolga. Mehr als 700 Teilnehmer bewarben sich um die Teilnahme. Eine internationale Jury wählte zunächst zweimal 15 Teams aus, denen je eine der Aufgaben zur Bearbeitung zugelost wurden. Unter den Finalisten sind auch Frauenteams.

Ausstellungsansicht (Foto: © Erik-Jan Ouwerkerk)
Ausstellungsansicht (Foto: © Erik-Jan Ouwerkerk)

Derzeit ist die Ausstellung im Berliner Aedes Architekturforum zu Gast. Das Studium der Pläne erweist, dass sich die Arbeiten der Teilnehmer im internationalen Vergleich nicht zu verstecken brauchen. Was zum Beispiel am Hafen von Kasan mit einem großen Getreidespeicher mit immerhin 168 Silos anzufangen wäre, dafür haben die jungen Baukünstler eine Fülle von Ideen: Aufschneiden, Teile herausnehmen sodass kathedralhafte Innenräume entstehen, mit Fenstern öffnen für eine Hotelnutzung, bekrönen mit Dachgärten, Domen oder überbauen mit einem gläsernen Kopfbau à la Elbphilharmonie. Den großen Maßstab beherrschen sie jedenfalls wie BIG oder Koolhaas, aber auch die einfühlsamen Eingriffe in einen ehemaligen Fabrikkomplex, wo es galt, Fabrikruinen zu rekonstruieren oder zu poetischen Collagen zu ergänzen oder mit Neubaukörpern mal additiv, mal im Material angepasst oder im Stil kontrastierend zu ergänzen. Kühl Technizistisches und Rationalistisches ist ebenso im Angebot wie Altstadtromantik. Mal stand Aldo Rossi Pate, mal HdM, mal Max Dudler, mal Ricardo Bofil. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zeigen sich jedenfalls gut unterrichtet darüber, wie derlei Aufgaben in letzter Zeit in aller Welt gelöst worden sind und spinnen sie weiter mit fantasievollen eigenen Ideen. Der Schauwert ist beträchtlich, das Niveau der Pläne und Imaginationen ebenfalls.

Eines der Wettbewerbsgebiete ist ein ehemaliger Getreidespeicher am Hafen (Foto: © The Institute for Urban Development of the Republic of Tatarstan)
Goldener Preis (Getreidespeicher): LETO, Moskau (© The Institute for Urban Development of the Republic of Tatarstan)
Silberner Preis (Getreidespeicher): Megabudka, Moskau (© The Institute for Urban Development of the Republic of Tatarstan)
Sonderpreis (Getreidespeicher): Ilya Obodovsky, Simferopol (© The Institute for Urban Development of the Republic of Tatarstan)
Lobende Erwähnung (Getreidespeicher): Azat Akhmadullin, Ufa (© The Institute for Urban Development of the Republic of Tatarstan)

Der Begriff „Biennale“ erweist sich als geschickt gewählt. Das Ziel, damit junge Talente zu entdecken und ihnen Starthilfe zu geben, ist damit offenkundig erreichbar. Für die Zukunft möchte sich Initiator Sergei Tchoban aus dem Verfahren zurückziehen und hofft, dass die Russische Biennale für junge Architekten genug Eigendynamik entwickelt, um sich zu etablieren. Wichtig ist ihm, dass die Initiative unabhängig bleibt. Die Russische Biennale wird zwar von Tatarstan finanziert, ist jedoch eine private Initiative und soll dies bleiben. Eine Zusammenarbeit mit Verbänden oder Institutionen oder gar eine Trägerschaft des Architektenverbands, des Bauministeriums oder einer anderen offiziellen Einrichtung soll unter allen Umständen vermieden werden. Denn es gilt vor allem, in den nicht immer integren Verhältnissen des russischen Immobilienwesens Talente außerhalb der Netzwerke zu entdecken und ihnen Chancen zu eröffnen. 

Die Ausstellung im Aedes Architekturforum sollte ursprünglich bis Ende April laufen. Derzeit ist sie, wegen der verfügten Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus’, geschlossen. Die Ausstellungsmacher haben zügig auf die Schließung von Einrichtungen reagiert und werden die Inhalte der Ausstellung in den nächsten Tagen online stellen (Info: www.aedes-arc.de).

Das zweite Wettbewerbsgebiet ist die ehemalige Fabrik Santekhpribor (Foto: © The Institute for Urban Development of the Republic of Tatarstan)
Goldener Preis (Fabrik): Alexander Alyaev, Moskau (© The Institute for Urban Development of the Republic of Tatarstan)
Silberner Preis (Fabrik): KB11, Ufa (© The Institute for Urban Development of the Republic of Tatarstan)
Sonderpreis (Fabrik): Kseniya Vorobieva, Moskau (© The Institute for Urban Development of the Republic of Tatarstan)
Lobende Erwähnung (Fabrik): CHVOYA, St. Petersburg (© The Institute for Urban Development of the Republic of Tatarstan)

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