Freigelegte Geschichte

Susanna Koeberle
10. fevereiro 2021
Ein Beispiel für die reich verzierten Interieurs der Chesa sur l’En (Foto: Albert Steiner, Sammlung Guglielmo Semadeni)

Im Begriff Biografie steckt das Wort Leben. Wenn also die Kulturwissenschaftlerin und Autorin Cordula Seger von ihrer Publikation zur Chesa sur l’En (Haus am Inn) als einer Biografie spricht, muss man davon ausgehen, dass sie Häuser als etwas Lebendiges versteht. In der Tat sind sie für Seger mehr als tote Materie, mehr als einfach ein Stück Architektur. Sie seien auch als Abdruck ihrer Bewohner*innen zu lesen, ist sie überzeugt. Dass Räume und Orte etwas über unsere Gesellschaft aussagen, steht außer Frage. Diese komplexen Zusammenhänge zu rekonstruieren, ist allerdings keine einfache Sache. Schließlich stammt der Bau, dem in der vorliegenden Publikation über zweihundert Seiten gewidmet sind, vom Ende des 19. Jahrhunderts. Nachdem Seger 2015 mit ihrer Recherche begonnen hatte, wurde schnell klar, dass sie viele bis anhin unbeantwortete Fragen aufwerfen würde. Diese aufzuarbeiten liegt durchaus im Interesse der Öffentlichkeit. Ihr mehrjähriges Forschungsprojekt wurde deswegen durch die Kulturförderung des Kantons Graubünden, das Institut für Kulturforschung Graubünden sowie die Gemeinde St. Moritz unterstützt. 

So begann für die Forscherin ein Abenteuer, das sie über ganz unterschiedliche Wege auf die multiplen Spuren dieses märchenhaft anmutenden Bauwerks führte. Dabei interpretiert sie das Haus als Bühne für gesellschaftliche Auftritte sowie zugleich als Behälter für intime Erinnerungen. Die Chesa sur l’En (die übrigens nicht von Anfang an so hieß) ist ein Haus mit Eigenleben. Die vielseitigen Aspekte davon aufzurollen, ist auch deswegen spannend, weil das Haus, das in St. Moritz Bad in der Nähe der Kantonsstraße steht, den „gemeinen“ Engadin-Tourist*innen, die sich tendenziell im mondänen St. Moritz Dorf aufhalten, kaum auffällt. Die Chesa sur l’En steht denn auch paradigmatisch für die Entwicklung der „Top-of-the-Word“-Destination.

Ein Mischwesen zwischen herrschaftlicher Villa und ländlichem Chalet (Foto: Albert Steiner, Sammlung Guglielmo Semadeni)

Doch beginnen wir von vorne. Auftraggeber der Villa war Jacques Ambrosius von Planta (1826–1901), Spross des angesehenen und weit verzweigten Bündner Adelsgeschlechts von Planta. Seine Familie stammte aus Samedan unweit von St. Moritz. Der als Baumwollhändler in Alexandrien tätige Geschäftsmann kehrte 1867 in die Schweiz (später eben auch ins Tal seiner Vorfahren) zurück und wurde zum Wegbereiter eines individuell gelebten und inszenierten Tourismus. Er und seine Frau Marie von Planta-Wildenberg (1838–1925) ließen sich ein Haus am Inn mit Blick auf St. Moritz Bad bauen. Dieses darf als einer der ersten Privatbauten gelten, die zum Typus Ferienhaus gehörten. Interessant ist dabei die hybride Form des Baus, die sich sowohl am Chalet als national gefärbter Haustypologie, an historisierenden architektonischen Tendenzen als zugleich auch an vernakulären und lokalen Charakteristiken orientiert. Diese Mischform ist unter anderem auch darauf zurückzuführen, dass das Ehepaar von Planta gleich zwei Architekten mit dem Bau beauftragte, nämlich Alexander Kuoni (1842–1888) und Nicolaus Hartmann senior (1838–1903). 

Die genauen Gründe für diese Kooperation sind zwar nicht bekannt, doch handelte es sich dabei seinerzeit um eine nicht unübliche Praxis. Kuoni – schon bei der Churer Villa von Planta als Baumeister beteiligt – war sowohl akademisch ausgebildeter Architekt wie auch als Chaletfabrikant ein umtriebiger Geschäftsmann. Gebaut hatte er im Engadin zuvor schon in Maloja, wo in den 1880er-Jahren ein regelrechter Bauboom einsetzte. Er war für die Holzarbeiten zuständig. Die eigentliche Erfindung bei der Chesa sur l’En lag aber im Miteinander von muralem Massiv- und filigranem Holzbau – dafür zeichnete Hartmann verantwortlich. Er schuf gewissermaßen einen Hybrid zwischen weltmännischem Schloss und ländlichem Chalet und inspirierte mit dieser Bauweise auch andere Architekten. Kleinere Abweichungen von der ursprünglichen Zeichnung – etwa Veränderungen, die darauf hindeuten, dass die Auftraggeber den Bau stärker in der lokalen Bautradition verankern wollten – konnte Seger aber erst nachweisen, als sie die Pläne von Hartmann zu Gesicht bekam. Das dauerte länger. Denn obschon sich der Nachlass des Architekten im Staatsarchiv befindet, fehlten ausgerechnet die Pläne für dieses Haus. Über detektivische Recherchen stieß die Forscherin auf Verwandte eines späteren Bewohners, bei denen die gesuchten Entwurfszeichnungen gerahmt in der Stube hingen. Dank der investigativen Suche schlossen sich langsam die Lücken. 

Das Haus hat etwas von einem Märchenschloss. (Foto: Beatrice Minda)

Durch ihre Recherchen konnte Cordula Seger auch ältere „Legenden“ zu Details der Villa widerlegen, so etwa eine eher abstruse Geschichte rund um eine Rötel-Zeichnung von Giovanni Segantini (1858–1899) in der Balkonnische neben dem Eingang. Diese soll als Exorzismus gegen böse Geister, die das Haus heimsuchten, in Auftrag gegeben worden sein. Segers Vermutung, dass dieses Kunstwerk wohl im Kontext der Freundschaft des Künstlers mit der Familie von Planta entstanden sein müsse, wurde später tatsächlich von einer Leserin des Buches bestätigt. Überhaupt spielte Kunst im Lebensentwurf der Familie von Planta eine wichtige Rolle. So beauftragte Anna von Planta, die Tochter des Bauherren, den Künstler Giovanni Giacometti (1868–1933) mit einem mehrteiligen Panorama-Fries für das Esszimmer. Dieser Auftrag war gewissermaßen Nebenprodukt eines größeres Projekts von Segantini und Giacometti für die Pariser Weltausstellung, das schließlich nicht realisiert wurde. Beim Verkauf an die Familie Roussette-Semadeni 1914 wurde das Werk, das die Engadiner Landschaft gekonnt in Szene setzt, entfernt.

Die heutigen Bewohner haben minimale Eingriffe vorgenommen und teilweise den orientalisierenden Stil betont. (Foto: Beatrice Minda)

Das Verdienst der umfangreich bebilderten Publikation liegt in der Breite und Tiefe, mit der die Autorin die Leser*innen an die Geschichte der Villa heranführt. Dabei stehen neben der Architektur auch die diversen Nutzungen sowie die unterschiedlichen Bewohner*innen des Baus im Fokus. Groß ist die Anzahl Menschen, die in den Genuss dieses außergewöhnlichen Domizils kamen. Schon das Mutter-Tochter-Gespann Marie und Anna von Planta empfing Gäste aus aller Welt; auch die zweiten Besitzer, das Ehepaar Jules und Anna Roussette-Semadeni, beherbergten im Haus Mitglieder ihrer weit verzweigten Verwandtschaft. Seit den 1920er-Jahren war der deutsche Hotelier André Schmidt-Nyfenegger (1894–1961) in St. Moritz tätig, auf ihn geht übrigens auch der Name Chesa sur l’En zurück. Allerdings gehört seine Geschichte zu den traurigeren Kapiteln des Hauses. Er verwandelte es 1938 in einen schicken Tea-Room, was den lokalen Behörden sauer aufstieß. So wurde er Opfer einer Intrige und verkaufte das Haus wieder. 

Nach einem kurzen Intermezzo als Familienhotel (ein ziemlicher Kontrast zur ursprünglichen Nutzung als Ferienhaus einer Adelsfamilie) übernahmen Eliane und Dieter Schwarzenbach in den 1960er-Jahren das Chalet und führten es als kleines Hotel. Die Klientel war bunt gemischt. Erstaunlich sei, dass die oftmals betuchten Gäste sich damit zufrieden gaben, dass es keine separaten Badezimmer gab, erzählt Seger im Gespräch. Vielmehr habe die familiäre Atmosphäre des Ortes im Vordergrund gestanden. Im letzten Kapitel des Buches zeigt ein Fotoessay von Beatrice Minda den aktuellen Zustand der Villa, die 1992 von der Familie Abegg erworben wurde. Das Buch schafft es, über das Fokussieren auf ein einzelnes Bauwerk einen umfassenden Einblick in die verschiedenen thematischen Stränge zu geben, die das Engadin als Tourismusdestination prägten. 

Biografie eines Hauses. Chesa sur l’En St. Moritz

Biografie eines Hauses. Chesa sur l’En St. Moritz
Cordula Seger

210 x 270 Millimeter
240 Páginas
180 Illustrations
Hardcover
ISBN 9783039130139
AS Verlag
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