Anstatt eines Nachrufs: Ein Gespräch mit Georg Heinrichs

Eduard Kögel
27. janeiro 2021
Wohnanlage Märkisches Viertel Berlin nach der Sanierung, Planung: Müller / Heinrichs (Foto: Eduard Kögel)

Im Dezember 2020 ist der Architekt Georg Heinrichs 94-jährig verstorben. Er gehörte zu den prägenden Architekten West-Berlins, der ab Anfang der sechziger Jahre mit seiner architektonischen Haltung spektakuläre Akzente setzte. Nach dem Studium in Berlin arbeitete er für Alvar Aalto und in London für Yorke Rosenberg Mardall. Dann führte er bis 1967 ein Büro zusammen mit Hans Christian Müller, der Werner Düttmann auf dem Posten des West-Berliner Senatsbaudirektors folgte, bevor er bis Ende der neunziger Jahre alleine weiterarbeitete.  

Heinrichs Ideen blieben in postmodernen Zeiten von der Moderne geprägt, in der er jedoch ein räumliches Konzept verankern wollte. Allerdings war seine Haltung auch durch die Erfahrungen im Nationalsozialismus beeinflusst, weil die Familie wegen der jüdischen Mutter verfolgt wurde, und sein älterer Bruder die Zwangsarbeit nicht überlebte. Dieser Hintergrund war bei der Auswahl der Architekten für das Märkische Viertel wichtig, wo vor allem junge Kollegen eingeladen wurden, die nichts mit den Nationalsozialisten zu tun hatten.    

Das folgende Gespräch fand 2014 im Kontext der von Sally Below kuratierten Ausstellung „märkisches viertel: 3,2 qkm leben“ zum 50-jährigen Bestehen des Märkischen Viertels in Berlin statt und wird hier in gekürzter Fassung zum ersten Mal veröffentlicht.

Georg Heinrichs, 2014 (Foto: Eduard Kögel)
„Ich bin gegen Hochhäuser, denn in einer Hochhausstadt ist der Mensch nichts.“

Georg Heinrichs

Eduard Kögel: Wie wurden Sie zum Planer für das Märkische Viertel? 

Georg Heinrichs: Der Senatsbaudirektor Werner Düttman forderte das Büro Hans Müller und Georg Heinrichs 1960 zum Wettbewerb für ein Grundstück an der Heerstraße, Ecke Gatower Straße, auf. Ich schlug eine Bebauung vor, die, im Gegensatz zu anderen Beiträgen, räumliche Strukturen vorsah. Düttmann fand den Entwurf interessant, aber zehn Jahre zu früh. Einige Zeit später kam er mit einem Gebiet im Norden von Berlin für das vom Senat eine banale Planung vorlag. Düttmann gefiel das nicht und deshalb beauftragte er uns mit einem Gegenvorschlag. 

Für den städtebaulichen Entwurf im späteren Märkischen Viertel akzeptierten wir die drei vorhandenen Schrebergartengebiete, die durch Einfamilienhäuser ersetzt werden sollten. Ich entwarf ein Zentrum, von dem ausgehend drei Arme die Schrebergärten umfassten, und den Grünzug führten wir durch die Mitte von Ost nach West. Die einzelnen Baugruppen vergaben wir an verschiedene Architekten. Im Norden ist die expressive Richtung mit Chen Kuen Lee, Heinz Schudnagies, Jo Zimmermann und Peter Pfankuch vertreten und im Süden die im rechten Winkel, wie Ludwig Leo, Werner Düttmann, Oswald Mathias Ungers, Ernst Gisel oder wir selbst.
 

EK: Wie kamen die Architekten zu den Aufträgen? 

GH: Wir wollten mit jungen Architekten unter 35 Jahren arbeiten. Es gab damals zwei Haltungen in Berlin: die Scharoun-Schule im Umfeld der Technischen Universität und die Leute aus dem Umkreis der Hochschule für bildende Künste [1], die von Bauhaus-Schülern beeinflusst waren. Es sollten zusätzlich internationale Architekten beteiligt werden. Wir fragten Ernst Gisel und Karl Fleig aus Zürich, dazu kam Astra Zarina-Haner, eine Amerikanerin aus Rom, und aus Frankreich Shadrach Woods und René Gagès. Gisel besuchte ich in Zürich. Wir wollten ihm einen Auftrag über 1500 Wohnungen geben. Ich dachte, der wird vor Freude an die Decke springen. Aber am Ende meines Vortrages sagte seine Frau auf Schweizerdeutsch nur „Magsch äs Öpfeli?“.

Skizze von Georg Heinrichs zum Zentrum im Märkischen Viertel (Foto: Eduard Kögel)
Original Farbschema Georg Heinrichs für das Märkische Viertel (Foto: Eduard Kögel)

EK: Lehnen sich die städtebaulichen Ideen an Überlegungen von Hans Scharoun an? 

GH: Die Grundidee war das räumliche, das dreidimensionale Bauen. Zu den Vorbildern gehört die Taut’sche Hufeisensiedlung und die Scharoun’schen räumlichen Bauten in Charlottenburg-Nord. Ich kannte von Alvar Aalto die fabelhafte Grundrissidee, die ich mein ganzes Leben durchgehalten habe, und ich hatte von Scharoun die Idee mit dem Räumlichen. 


EK: Wie kamen Sie zu einer so farbenfrohen Architektur?

GH: Meine Eltern zogen in die Argentinische Allee und da war die Taut’sche Siedlung Onkel Tom. Welcher Unterschied zu meinem Geburtshaus mit seiner klassizistischen Berliner Architektur in der Joachim-Friedrich-Straße! Als Sechsjähriger erlebte ich 1932 den Bau der Siedlung Onkel Tom. Das war für mich eine Offenbarung. Mein Vater war ebenfalls Architekt, konnte aber während der Zeit des Nationalsozialismus nicht bauen, da meine Mutter jüdisch war. Mich steckten die Nazis während des Krieges ins Lager und als ich 1945 rauskam holte ich sofort das Abitur nach, um an der Hochschule für bildende Künste in Berlin Architektur zu studieren. Ich begann bei Theo Effenberger, das war ein Altmodischer, und dann kam ich über meine spätere Frau zu Wils Ebert, einem Gropius-Schüler. 


EK: Gab es für das Märkische Viertel internationale Vorbilder?

GH: Die städtebauliche Form ist aus der Situation entwickelt. In der Mitte das Zentrum, von dem die drei Bebauungsarme abgehen, und von Ost nach West ein Boulevard, der Wilhelmsruher Damm. Der Marktplatz im Zentrum ist mit Bäumen bestanden und hat ringsherum kleine Läden. Das war mein Plan. 
Mein Konzept blieb aber immer horizontal. Ich bin gegen Hochhäuser, denn in einer Hochhausstadt ist der Mensch nichts. Ich wollte die alte Berliner, Londoner oder Pariser Grundstruktur, viergeschossig, da kann man noch zu Fuß hoch gehen, mit dem Laden im Erdgeschoss. Das ist noch meine Stadt. Ich gehöre zur Endmoräne des bürgerlichen Zeitalters.

Modell der Straßenüberbauung mit Plastik von Utz Kampmann (Foto: Foto Eduard Kögel)

EK: Woher kamen die künstlerischen Konzepte für das Märkische Viertel?

GH: Die Farben unserer Häuser suchte ich aus. Meine originale Farbskala habe ich noch; Gelb, Orange, Rot und Blau. Utz Kampmann gestaltete für mich das zweite Brückenbauwerk, in das ein Kino sollte. Für dieses Brückenbauwerk schlug er als Außenhaut eine Kunststoffleuchtskulptur vor. Dann kamen die 68er-Studenten, die wollten Kindergärten, aber keine Kunst an der Brücke. 


EK: Welchen Einfluss hatte Ihre Erfahrung in Großbritannien?

GH: Ich arbeitete in London bei Yorke Rosenberg Mardall am Flughafen Gatwick. Yorke’s Bürochef war David Allford, der den ganzen Flughafen auf amerikanisch entworfen hatte, in Stahlskelett mit großen Fenstern. Der Auftraggeber lehnte das ab. Dann mussten sie den ganzen Entwurf ändern, nur mein Control-Tower in Béton brut blieb, den Reyner Banham in seinem Buch „The New Brutalism“ veröffentlichte. [2]


EK: Gab es Kontakte zu Archigram und spielten ihre Konzepte eine Rolle für das Märkische Viertel? 

GH: Ich holte die ganze Gruppe um Peter Cook nach Berlin. Aber sie sagten, wir haben da nur dieses eine Projekt mit der Schildkröte und dem Vierfüßler. In der Akademie der Künste in Berlin hatten wir eine Veranstaltung, bei der sie allerdings nicht viel zeigen konnten. [3]
Ihre Konzepte spielten keine Rolle. Ich war mit meinen eigenen Ideen voll beschäftigt. Lediglich bei meinem Entwurf für das Museum am Kemperplatz ließ ich mich 1965 von ihren Konzepten inspirieren.


EK: Ihre städtebaulichen wie Ihre architektonischen Skizzen sehen aus wie Diagramme.

GH: Ja, so ist es auch. Ich wollte mit meinen Skizzen darstellen, was wesentlich für mich ist, der dreidimensionale Raum. Mit den Skizzen vergewisserte ich mich, wohin ich eigentlich will.

Landschaft um die Wohnanlage Märkisches Viertel, Planung: Müller / Heinrichs (Foto: Eduard Kögel)
„Mein Partner Hans Müller sagte irgendwann, 'willste nicht mal was anderes machen?' Er meinte damit Postmoderne – aber das wäre nur über meine Leiche gegangen.“

Georg Heinrichs

EK: Viele der Gebäude im Märkischen Viertel sind im Erdgeschoss offen. Was sollte da geschehen?

GH: Das Grundwasser steht dort sehr hoch und deshalb sollte in den Erdgeschossen kein Wohnen stattfinden. Wir stellten uns aber eine richtige Stadt vor, wie in der alten Berliner Situation eben, im Erdgeschoss Läden, Cafés und so was alles. Dafür war dann kein Geld mehr da. Ich konnte das nur vorschlagen, aber nicht realisieren. Ich wollte ein neues Zentrum, eine städtische Struktur, die ich von der Uhlandstraße in Charlottenburg her kannte. 
Für die Freiraumplanung veranstalteten wir einen Wettbewerb und den gewann die SAL-Gruppe. Nach meiner Vorstellung sollte es eine starke, architekturbezogene, städtische Bepflanzung sein. Auch die Allee entlang des Wilhelmsruher Damm geht auf meine Idee eines städtischen Boulevards zurück. Die Gestaltung der Innenhöfe hingegen kommt von der SAL Gruppe. Ich wollte einen zur Architektur gehörigen Grünraum, geometrisch, nach französischem Vorbild. Dort sollten die Mieter sich erholen, sollte Platz sein für Kinderspiel.

EK: Das Märkische Viertel wurde später in der Presse ziemlich angegriffen, auch mit persönlichen Angriffen gegen die Architekten.

GH: Es gab im Spiegel einen langen Artikel, in dem steht, 'reden wir in zehn Jahren drüber'. Jetzt finden’s alle prima. [4]


EK: Ihre frühen Bauten haben eine relativ überschaubare Größe, aber im Märkische Viertel ging es um ganz andere Dimensionen. Man sieht Ihrer Architektur an, dass sie nicht beliebig ist.

GH: Ich habe immer nach denselben Prinzipien entworfen. Mein Partner Hans Müller sagte irgendwann, 'willste nicht mal was anderes machen?' Er meinte damit Postmoderne – aber das wäre nur über meine Leiche gegangen. 
Von meinen fünfzig realisierten Bauten stehen zehn unter Denkmalschutz. Mein Freund David Allford sagte, jedes seiner Projekte ende vor dem Richter. Ich kenne nicht mal einen Rechtsanwalt. Alle haben bezahlt, ich habe gemacht, habe keine Prozesse geführt, ich bin ein glücklicher Mensch.

1) Heute Universität der Künste Berlin.
2) Deutsch, Reyner Banham: Brutalismus in der Architektur: Ethik oder Ästhetik?, Stuttgart, 1966.
3) Die Podiumsdiskussion mit der Gruppe Archigram fand am 10. Juli 1966 in der Akademie der Künste statt.
4) Karl-Heinz Krüger: Menschen im Experiment. Das Märkische Viertel und seine Bewohner, in Der Spiegel, 45/1970.

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