„Unge-wohnt“

Ulf Meyer
6. mei 2020
Foto via Pexels

Die Zukunft des Wohnens war schon vor der Corona-Krise ein „heißes“ Thema: Politisch, technisch, sozial. Die Anzahl kleiner und dennoch teurer Großstadtwohnungen nimmt zu, „Self-Storage“ ist in, Baugruppen sind ein neuer Typus Bauherr und die Politik liebäugelt mancherorts mit einem Mietendeckel. Aber auch technisch gibt es einige Neuerungen, die das Wohnen verändern: Breitband-Internet-Zugang in jeder Behausung führt dazu, dass das Streaming am Laptop das Fernsehen im Wohnzimmer ersetzt. Der Einsatz von Bewegungsmeldern, „Alexa“ und Saugrobotern revolutioniert die Hautechnik, während soziale Phänomene wie die Auflösung der Kleinfamilie, die Landflucht und Plattformen wie Airb’n‘b den Immobilienmarkt bewegen. Diese Veränderungen widerspiegeln sich im privaten Interieur. Durch die Corona-Krise, die derzeit Millionen Menschen zur Heimarbeit zwingt, verwischt die Grenze zwischen Arbeits- und Privatleben zusätzlich. 

Der Düsseldorfer Architekturjournalist Klaus Englert diskutiert in seinem neu erschienenen Buch „Wie wir wohnen werden“ die Zukunft des Wohnens. Das Timing der Veröffentlichung ist perfekt, die Alliteration im Titel herrlich. Allerdings wird das Versprechen des Titels nur teilweise eingelöst: Tatsächlich interessiert sich der Autor mehr für die aufkommende Moderne vor hundert Jahren und die Wohnungsbau-Architektur. Das Wohnen selbst tangiert er nur. Englert hat sein Buch in drei Teile gegliedert: Eine kurze Geschichte der aufkommenden Moderne, zwölf recht disparate Ansätze im zeitgenössischen Wohnungsbau, gefolgt von Interviews mit drei Architekten: Winy Maas, Werner Sobek und Tobias Walliser.

Der erste Teil des Buches, der „Englert-lastigste“, ist am besten gelungen: Klug und kenntnisreich führt Englert durch die Entwicklung des modernen Wohnens Ende des 19. Jahrhunderts anhand der Geistes- und Literaturgeschichte. Seine beiden Protagonisten Walter Benjamin und Sigfried Giedion sind wohlbekannt und die baukulturellen Schlachten, die sie einst ausgefochten haben, lange geschlagen: Das „Höhlenwohnen“ der Gründerzeit wird dem reduzierten „Nestwohnen“ der Moderne gegenübergestellt wie gut und böse: Hier der großbürgerliche Spieß und Nippes, dort die lichte Moderne, die leicht und reduziert, ohne Ballast daherkommt. Irritierend ist für den Leser mehr als hundert Jahre nach diesen Debatten, dass der Autor die Positionen der Moderne in keiner Weise hinterfragt. Englert macht sich zum Anwalt der klassischen Moderne. Seine Protagonisten sind Heroen, Moderne-Kritik unzulässig oder unnötig. 

In den kurzen Passagen über die heutige Wohnsituation in deutschen Großstädten nimmt Englert das vom Büro ASTOC aus Köln entworfenes Neubauviertel Derendorf im Norden von Düsseldorf zum Beispiel, das er aus der eigenen täglichen Anschauung kennt. Die „Misere des Wohnungsmarktes“, die sich für ihn in dem Viertel ökonomisch und ästhetisch offenbart, führt er zugleich auf den „Neoliberalismus“, einen beliebten Prügelknaben, und den Abverkauf des Sozialen Wohnungsbaus durch die Sozialdemokratie zurück. Derartige Widersprüche werden leider nicht thematisiert. Amerikanische Fonds als Bauherren sind ihm ebenso suspekt wie Chinesen als Käufer oder Osteuropäer als Handwerker. Englert ist ein Experte für Architektur in seiner Heimatstadt Düsseldorf, aber auch für die Niederlande, Spanien, Frankreich und andere Teile der romanischen Welt. Dass er den Traum der leeren, „mobilen“ Wohnung für Nicht-Sesshafte noch einmal träumt, Wohnwagen und Raumkapsel als Vorbilder noch einmal aus der Mottenkiste der Moderne holt, die „Tyrannei der Transparenz“ nicht thematisiert, den „nötigen moralischen Exhibitionismus“ der modernen, „befreiten“ Wohnung nicht hinterfragt, all das überrascht. „Kollektiv“, „weiß“ und „links“ ist „gut“, „privat“, „dunkel“ und „rechts“ ist böse, daran hat sich seit Giedion scheinbar nichts mehr geändert. Bürgerliche Wohnkultur ist allein ein bourgeoises Korsett. Der „heroische“, aber auch übergriffige Gestalter verteilt Rezepte für ein „besseres Wohnen“. Unter Millenials herrscht Unlust, aus dem eigenen Heim ein Lebensprojekt zu machen. Der homo movens bevorzugt den Dauer-Tourismus und braucht kein „Zuhause als Selbstdarstellung“. Das Zuhause soll aussehen und funktionieren wie ein Boutique-Hotelzimmer. Dabei entwickelt gerade eine „mobilitätsgetriebene Gesellschaft“ Sehnsucht nach „Geborgenheit“ (neudeutsch „Cocooning“). 

Der Reclam-Verlag aus Stuttgart, traditionell für seine Mini-Fibeln mit bildlosen Bleiwüsten-Seiten in Mikro-Schrift bekannt, hat für den zweiten Teil von Englerts Buch Raum für ein paar Schwarz-Weiß-Fotos spendiert, die der Autor teils selbst geschossen hat. Grundrisse oder Graphiken gibt es nicht in diesen kleinen Feuilletons. Das ist für ein Lesebuch zum Billigpreis akzeptabel. Schade ist jedoch, dass der Autor bei seinen Fallbeispielen Werke vorstellt, die er offensichtlich selber nicht kennt: Die ephemeren Leichtkonstruktionen von Sou Fujimoto in Tokyo zum Beispiel wie sie anhand des „Wohnhauses N“ medial um die ganze Welt gingen, gelten ihm als Beispiel für „Transparenz“. Die inszenierten Pressebilder suggerieren das auch kunstvoll. Die Realität ist allerdings das genaue Gegenteil: Bis zur Unkenntlichkeit verrammelt, abgesperrt und schon nach Monaten baufällig rosten diese Ikonen des neuen Wohnens un-isoliert in Japan dahin, kurz nachdem der Fotograf sie geschickt und einmalig mit jungen Frauen in weißen Gewändern und Brise im Haar bevölkert hat. Für den europäischen Leser, der sich für die Zukunft des Wohnens interessiert, nutzt so eine Projektvorstellung wenig. Denn viel prägender für Japan ist die Vorstellung, die Wohnung sei ein Refugium vor der Welt – gerade so, wie es derzeit die Wohnung als Quarantäne-Ort zu Zeiten der Infektionskrise ist.

Klaus Englert: Wie wir wohnen werden. Die Entwicklung der Wohnung und die Architektur von morgen. Reclam Verlag, Leipzig 2019. 216 S., Abb., br., 18,- Euro

Wie wir wohnen werden

Wie wir wohnen werden
Klaus Englert

12,5 x 20,5 cm
216 Pagina's
28 Illustrations
Klappenbroschur
ISBN 9783150111864
reclam
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