Rurale Landschaften

Susanna Koeberle
17. 1月 2021
Rekonstruktion auf der Alpe di Sceru in der Val Malvaglia, 2002 (Foto © Pino Brioschi)

Unser Blick auf die Bergwelt hat sich gewandelt. Während „der Berg“ früher gemeinhin als Sinnbild für Bedrohung galt, entwickelte sich mit dem Aufkommen des Tourismus eine andere Sicht auf den alpinen Raum: Die Bergwelt steht gleichermaßen auch für Idylle. Sogar die archaische Lebensweise der Alpenbewohner erschien in einem neuen Licht. Beide kulturellen Narrative sind nach wie vor vorhanden. Der Wandel von Landschaften und ihrer Wahrnehmung ist eine Konstante. Auch in der Schweiz, deren Identität stark von den Alpen geprägt ist, ist die Nutzung der alpinen Landschaft ein wichtiges Thema. Die Abwanderung aus diesen Gebieten, in denen das Leben besonders hart war (und ist), hält bis heute an. In den späten 1950er-Jahren war gerade in den Tessiner Tälern die Armut besonders groß und bewog die Bevölkerung (oder zumindest Teile davon), in die Dörfer und Städte zu ziehen, dahin, wo es Arbeit gab. Zurück blieben leere Bauten. Die verlassenen Bauwerke wurden quasi zum Grab ihrer selbst.

Sceru vor der Rekomposition im Jahr 2000 (Foto © Pino Brioschi)
Sceru 2015 nach der Rekomposition (Foto © Pino Brioschi)

Der Tessiner Architekt Martino Pedrozzi ist mit der Valle Malvaglia und der Valle di Blenio verbunden und ein langjähriger Beobachter dieser Landschaft. Fasziniert durch die Bauweise der Steinhäuser sowie durch ihre Positionierung in der Landschaft, begann er sich kurz nach Abschluss des Studiums intensiver damit auseinanderzusetzen. Zunächst renovierte er mit wenigen Eingriffen einen ehemaligen Stall, den er fortan als Wochenendhaus nutzte. Später stieß er in der höher gelegenen Val Malvaglia auf Ruinen von Steinbauten. Eine der Hütten „flickte“ er behelfsmäßig zusammen, indem er vorhandenes Material wiederbenutzte. Doch was sollte er mit der Gruppe von etwa dreißig Bauten auf der früheren Alpweide anfangen? Was gab es da noch zu retten? Was hatte es für einen Sinn, diese zerfallenen Bauten wieder aufzubauen? Pedrozzi entschied sich für einen ungewöhnlichen Weg, nämlich für eine Rekomposition der Umrisse, ohne die Häuser irgendeinem Zweck zuzuführen. Mithilfe von Freiwilligen und mit Einwilligung der Besitzer*innen zeichnete er die alten Strukturen nach und setzte dieser ruralen Architektur ein Denkmal.

Dabei geschah eine wundersame Verwandlung: Die Steinhaufen mutierten gleichsam zur Abstraktion einer Behausung. Oder gar am Ende zu Land Art? Diese Bezeichnung würde dem Architekten allerdings kaum behagen, denn es geht ihm bei seinen Eingriffen nicht um eine künstlerische Praxis oder um eine Überhöhung des Vorhandenen. Er zeichnet vielmehr die Spur einer verschwundenen Lebensform nach und schafft eine physische Form der Erinnerung daran. Landschaften sind künstlich erzeugte Orte, daran erinnern diese Bauwerke. Die temporären Wohnbauten (die auch früher nur in den Sommermonaten genutzt werden konnten) sind Zeugen der Komplexität menschlicher Wohn- und Lebensformen. Pedrozzis Rekonstruktionen sensibilisieren zudem für die Schönheit dieser Landschaft. Eine Begehung mit dem Architekten, die ich vor neun Jahren mit einer Gruppe von Interessierten unternahm, bleibt jedenfalls in wunderbarer Erinnerung.

Eine Wanderung, die in Erinnerung bleibt, Juli 2012 (Foto: Susanna Koeberle)
Sprechende Steine (Foto: Susanna Koeberle)
Perpetuating Architecture. Martino Pedrozzi’s Interventions on the Rural Heritage in Valle di Blenio and in Val Malvaglia 1994–2017

Perpetuating Architecture. Martino Pedrozzi’s Interventions on the Rural Heritage in Valle di Blenio and in Val Malvaglia 1994–2017
Edited by Martino Pedrozzi. With contributions by Sebastiano Brandolini, Thomas Kissling, Bruno Reichlin and Günther Vogt.

220 x 265 Millimeter
104 ページ
87 Illustrations
Hardcover
ISBN 9783038601920
Park Books
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