Das Idyll braucht eine Revision

Katinka Corts
7. 10月 2022
Filmstill © Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion GmbH

Für einen kurzen Augenblick wirkt es idyllisch, wenn man zu Filmbeginn Menschen auf einer Skipiste fahren sieht. Doch sogleich erfolgt die Ernüchterung – wir sind Beobachter*innen in einer geschlossenen, künstlichen Skianlage, die aufgeständert am grünen Berghang steht. Wenige einleitende Momente, die bereits das Debakel umreißen, mit dem sich der Film beschäftigen wird: Was sind die Alpen für uns, wie nutzen wir sie, wie schützen wir sie? 
Der Alpenraum ist heute immer noch ein Sehnsuchtsort – sommers wie winters. Denkt man an diese Region, blenden sommerlich grüne, blumenbestandene Wiesen und dichte Wälder auf, dazwischen Wanderwege, die zu den entlegensten Gipfeln führen. Oder Bilder vom Winter: schneebedeckte Berge und Wälder, Skifahrende und das Mittagessen im Berggasthaus vor atemberaubender Kulisse.

Filmstill © NGF
Energieeinsatz und Emissionen – alles für den Schnee

Allein – das ist nicht die Wahrheit. Kommen wir als Touristen in die Berge, bleiben wir temporäre Konsumenten in einer Region, die dafür einen – immer höheren – Preis zahlen muss. Ein Förster formuliert das im Film so: „Du findest in den Alpen etwas, was Du woanders gar nicht mehr findest, aber das sind letztendlich die Reste.“ Er habe festgestellt, dass man ganz schnell das vergesse, was war, und das Neue hinnehme. Um diese schleichende Veränderung wieder ins Bewusstsein der Menschen zu rufen, hat er vor Jahren begonnen, Natur- und Stadträume in den Alpen regelmäßig fotografisch zu dokumentieren. 
Auf einem Bild zeigt er ein Speicherbecken hoch oben in den Bergen, das man im gefüllten Zustand womöglich als Teich betrachten könnte: „Hier war mal ein Hügel. Einer der Ingenieure hat mir damals stolz erzählt, dass man täglich 2000 Liter Diesel verfährt während des Aushubs.“ Auf den neuen Grund kam ein Fließ, darauf eine Gummifolie und Schotter. „Das heißt, es ist kein See oder Teich, sondern nur ein Becken. Darin bewahrt man Wasser auf, damit man innerhalb ganz kurzer Zeit sehr viel Schnee machen kann.“ 

Schnee machen, das ist in vielen Bergregionen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr auf Skitourismus spezialisiert haben, heute schon Normalität. Der Förster rechnet vor, dass viele Gebiete bei dem aktuellen Temperaturanstieg heute oftmals auf Höhen liegen, die kein mehrmonatiges Schneeversprechen mehr geben können wie früher. Die Speicherbecken liefern das Wasser für die Schneekanonen, die nächtelang die Pisten zwischen den grünen Wäldern weißen. „Die Schneekanonen sind das Signal dafür, dass ich den Winter, den ich durch Energieeinsatz und Emissionen verloren habe, zurückkaufen kann – wieder mit Energieeinsatz und Emissionen“, zieht er als Fazit. Mit der Fokussierung auf diesen Skibetrieb geht auch eine Verteuerung in den Orten einher, die das Interesse von Immobilienspekulanten weckt und Mieten für Einheimische unerschwinglich macht.

Industrieort Premana (Filmstill © NGF)
Tourismus als temporärer Segen

Genauso ist auch Wohnraum im schweizerischen Zermatt teuer geworden. Wo Gemeindeflächen und -räume verschwinden, damit statt ihrer Hotels und Ferienwohnungen errichtet werden können, geht der eigentliche bewohnte Ort immer mehr verloren. In Zermatt begleitet Schabus exemplarisch einen Bergbahnmitarbeiter und eine Verkäuferin, die sozusagen die Kulissenarbeiter für den Skizirkus sind. Zermatt würde nicht funktionieren, wenn alle hier tätigen portugisisch-stämmigen Arbeiter*innen ihre Tätigkeit niederlegen würden, sagt die Verkäuferin lachend. Wohnen können jene, die alles am Laufen halten, jedoch nur in den entlegenen Vororten, das Leben sei in Zermatt für sie schlicht nicht finanzierbar.

Im französischen Méribel ein ähnliches Bild, jedoch aus einer anderen Perspektive betrachtet: Hier sind ein Bergarzt und seine Kollegin die Protagonisten. In ihrer kleinen Praxis, die sie täglich öffnen, finden die Einheimischen genauso wie die ganzjährig hier lebenden, zugezogenen Pensionierten Hilfe. Doch die Weiterführung der Praxis ist ungewiss, es gibt hier keine Mediziner*innen, die die Nachfolge antreten wollen. Ernüchtert konstatieren sie schließlich, dass die Praxis wohl geschlossen werden wird, wenn die Gemeinde nicht aktiv wird und sich um eine Nachfolge kümmert. Stattdessen läge das Hauptaugenmerk im Ort darauf, die Anzahl der Hotels zu reduzieren und stattdessen Wohnungen für Feriengäste zu bauen. Doch auch wenn mehr Touristen kommen – von den damit generierten Einnahmen wird sich der Ort nicht mehr auf lange Sicht tragen können, sollten künftig wirklich nur noch zwei Schneemonate zur Verfügung stehen, mit denen man 12 Monate Leben finanzieren muss.

Filmstill © NGF
Vielfältige Region: Tourismus, Landwirtschaft, Industrie

Doch auch abseits des Tourismus werden die Alpen genutzt und bieten Lebens- und Arbeitsraum. Schabus reist durch die Lombardei und nach Premana, wo sich eine dichte und vielfältige Metallindustrie etabliert hat. Landwirtschaft spielt hier keine Rolle, dicht an dicht stehen Werkstätten von Schmieden und Mechanikern. Weiter westlich im Piemont trifft Schabus eine Ziegenhirtin, die sich neben dem Hüten der Tiere auch um die Produktion von Käse und dessen Verkauf kümmert. Und im Kärntner Mölltal erleben wir den Alltag eines Bauern und seiner Tochter, der mit seiner Schwester den väterlichen Hof betreibt. An steilen Hängen wird Heu gemacht, das Vieh in die Berge getrieben zum Weiden und der Hof betrieben. „Die großen Landwirtschaften werden immer größer und wir müssen schauen, wie wir zurechtkommen und haben zugleich keine Möglichkeit zum Wachsen“, so der Bauer. „Wir haben Arbeit genug fürs ganze Jahr, aber anstellen können wir niemanden, denn wir könnten gar nichts bezahlen dafür.“ Die Tochter weiß, dass jede Hand gebraucht wird und will, dass es mit der Berg- und Almwirtschaft weitergeht. „Aber so wie jetzt macht es keinen Sinn, da kann man nichts erwirtschaften. Und wenn man nicht rund um die Uhr arbeitet und nur für Stall und Vieh und Feld da ist, funktioniert es nicht“, sagt sie.

Filmstill © NGF
Für den Wandel brauchen wir eine neue alpine Bildwelt

Der Alpenraum ist heterogen. Das hängt zusammen mit den historischen und naturräumlichen Gegebenheiten, denn das kleingekammerte und diverse Gebirge ist kulturell sehr vielfältig. Gleichzeitig passiert vieles, was den Klimawandel vorantreibt, unter dem man eigentlich leidet. Die Expansionsdynamik und der stetige Wunsch nach Wachstum scheinen unaufhaltsam – was wiederum den Anstrengungen, Naturschutz zu betreiben und Biodiversität zu fördern, entgegenläuft. 

Die Porträts der verschiedenen Menschen zeigen im Film sehr gut, welche inneren Widersprüche und Ambivalenzen es hier zu erleben und auszuhalten gilt. Im Film treten alle Akteure einzeln und separiert voneinander auf. Zuschauende fordert das, denn sie müssen die vorgestellten Lebenswahrheiten zu eben jenem Gesamtbild von „Alpenland“ zusammenfügen. Aber womöglich ist genau dieses Aufzeigen der Vielfalt der richtige Weg, um endlich eine andere alpine Bildwelt zu etablieren und selber fähig zu werden, in der Öffentlichkeit sinnvoll gewichtend eine Debatte mit den Bewohner*innen und Nutzer*innen des Alpenraums führen zu können – und nicht über sie.

Wasserspeicherbecken werden auf Berggipfeln angelegt, um im Winter mit Schneekanonen viel befahrbares Weiß produzieren zu können. (Filmstill © NGF)

Alpenland

2022, Österreich
Ein Film von Robert Schabus

88 Minuten
Regie, Buch, Schnitt: Robert Schabus
Regieassistenz: Marie-Therese Vollmer
Kamera: Lukas Gnaiger
Ton: Bertram Knappitsch
Dramaturgie: Wolfgang Widerhofer
Sounddesign und Mischung: Andreas Frei
Grading: Lukas Lerperger
Musik: Lukas Lauermann

Produktionsleitung: Antonia Bernkopf
Herstellungsleitung: Michael Kitzberger
Produzenten: Michael Kitzberger, Wolfgang Widerhofer, Markus Glaser, Nikolaus Geyrhalter
Produktion NGF - Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion GmbH

ZFF 2022 – Das Zurich Film Festival
Das 18. Zurich Film Festival fand vom 22. September bis zum 2. Oktober statt. Im Fokus Wettbewerb wurden 14 Spiel- und Dokumentarfilme aus den Produktionsländern Schweiz, Deutschland und Österreich gezeigt, darunter auch der Film „Alpenland“. Bei allen Filmen handelt es sich um erste, zweite oder dritte Regiearbeiten.

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