Stephan Heise: Der baumeisterliche Künstler

Eduard Kögel
29. giugno 2022
Ensemble aus Grundschule und Kindertagesstätte im Märkischen Viertel Berlin, Schule (links) und Kita (rechts) in den 1980er-Jahren (Foto: Archiv Stephan Heise)

Vor 50 Jahren verstarb Hans Scharoun (1893–1972), der in seiner Genialität immer auch etwas eigenbrötlerisch blieb. Nach dem Zweiten Weltkrieg unterrichtete er an der Technischen Universität Berlin die Nachkriegsgeneration in seinem besonderen Architekturverständnis des Neuen Bauen, das von Frank Lloyd Wright inspiriert war und er betrieb sein eigenes Büro, in dem eine Reihe von jungen Architekten arbeiteten. In einer kleinen Serie stellen wir hier einige seiner ehemaligen Mitarbeiter und Studenten vor, die bis heute in seinem großen Schatten blieben.

Der 1928 geborene Stephan Heise absolvierte direkt nach dem Krieg eine Tischlerlehre in Darmstadt, bevor er an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart als Meisterschüler von Karl Wiehl (1898–1952) Innenarchitektur studierte. Er verließ die Hochschule nach dem frühen Tod seines Mentors Wiehl ohne Abschluss. Ab 1953 war Heise als freier Mitarbeiter für zehn Jahre im Büro von Scharoun. Für einige Zeit arbeitete er in Stuttgart unter anderem an den Wohnhochhäusern Romeo und Julia, wechselte dann nach Berlin ins Hauptbüro und arbeitete an der Siedlung Charlottenburg Nord, an der Philharmonie sowie an einigen unrealisierten Projekten mit. 1963 löste sich Heise vom Büro Scharoun und konnte in Berlin-Kladow ein erstes privates Wohnhaus unter seinem Namen bauen. Bereits um 1960 hatte er immer mal wieder projektbezogen als freier Mitarbeiter für Chen Kuen Lee in Süddeutschland gearbeitet.

Für Heise waren die Anfänge offensichtlich nicht einfach und es sollte ihm auch später nicht leichtfallen, seine Projekte umzusetzen. Mit seinem eigenen Büro befasste er sich in Wettbewerben, Gutachten und Studien mit dem Wohnungsbau, dem Kirchenbau, dem Zusammenwirken von Architektur und Landschaft sowie mit den klimatischen Auswirkungen auf städtebauliche Strukturen. Insgesamt baute er in seiner gesamten Schaffenszeit nur zirka ein halbes Duzend Häuser. Dazu kamen noch einmal so viele Projekte im kirchlichen Umfeld, vor allem Renovierungen und kleine Erweiterungen.
 

Grundriss Kunstschule Atrium (Plan: Archiv Stephan Heise)
Atrium Eingang nach der Sanierung (Foto © Eduard Kögel)
Das 1992 fertiggestellte Kulissenlager ist noch im Originalzustand (Foto © Eduard Kögel)
Bauten für die Bildung

Als in den Sechziger- und Siebzigerjahren in West-Berlin das Märkische Viertel gebaut wurde, konnte Stephan Heise ein Ensemble aus Grundschule und Kindertagesstätte entwerfen und bauen. Zuerst erhielt er den Auftrag für den Neubau der Wilhelm-Raabe-Grundschule (1965–70) mit 20 Klassen. Das Ensemble liegt direkt vor den abgestuften bis zu zwölfgeschossigen Wohnbauten von Chen Kuen Lee und verbindet sich ästhetisch durch seine gestaffelten Bauformen mit der Idee der Architekturlandschaft. Den Grundriss organisierte Heise eingeschossig und ringförmig um einen offenen Gartenhof, von dem zwei- bis dreigeschossige Seitenarme wie Tentakel in den umgebenden Garten ragen. Ein kleiner Schulkindergarten und die Hausmeisterwohnung lagen als separate eingeschossige „Villen“ neben dem Eingangsbereich im Garten.

Flure, die sich zu Kommunikationsräumen weiten, verbanden die einzelnen Einheiten und konnten unkonventionell auch für den Unterricht genutzt werden. Die Schule war aus Bauteilen in Sichtbeton und sichtbarem Kalksandsteinmauerwerk erstellt und hatte am Dachabschluss einen umlaufenden Sturz, der in orange abgesetzt war. Die Fensterbänder waren zusammen mit den Fensterrahmen schwarz gestrichen und durch einzelne orangene Öffnungsflügel spielerisch strukturiert. 

Da die Schülerzahlen bereits Mitte der Achtzigerjahre im Märkischen Viertel rückläufig waren, plante Heise den Umbau zu einem musischen Zentrum mit dem Namen ATRIUM, das heute als Jugendkunstschule des Bezirks die Kreativität der Kinder und Jugendlichen nicht nur aus dem eigenen Bezirk fördert. Sein Umbaukonzept sah vor, den Innenhof in eine Art Bühne mit einem Glasdach umzuwandeln, das jedoch nicht umgesetzt wurde. Stattdessen konnte Heise den langestreckten Neubau für ein Kulissenlager (1986–92) realisieren.
 

Grundriss der Kita im Märkischen Viertel (Plan: Archiv Stephan Heise)
Die wärmegedämmte Kita im Märkischen Viertel (Foto © Eduard Kögel)

Als die Wilhelm-Raabe-Grundschule 1970 fertig gestellt war, schloss sich für Heise einen Auftrag für eine Kindertagestätte mit 171 Plätzen auf demselben Grundstück an, die 1973 eröffnet wurde. Der Berliner Senator für Bau- und Wohnungswesen erwartete ein Gebäude, das „in der Jugenderziehung gewonnenen neuen pädagogischen Erkenntnisse, die der kreativen Entwicklung und der sozialisierenden Funktion eine hohe Bedeutung einräumen“. Im selben Schreiben bestätigt er Heise, dass dies in allen Belangen zu einem sehr günstigen Preis gelungen sei. Für die Verwaltung war es ein Vorzeigeprojekt, das bis Ende 1974 pädagogische Delegationen aus Österreich, Westdeutschland, England, Brasilien und Israel besuchten, und auf das man entsprechend stolz war. Die innere Erschließung organisierte Heise wie „die Hauptstraße einer kleinen alten Stadt – mal breit mal schmal, je nach ‚Verkehrsdichte‘ und Bedarf […] dabei entstehen Winkel, Ecken, kleine und größere Plätze“. So sollte der von oben belichtete Flur zu neuen Nutzungsmöglichkeiten anregen, unterstützt durch die Wandgestaltung aus Fotocollagen und naiven Malereien, die die Künstlerin Susanne Riée (1927–2020) in Zusammenarbeit mit den Kindern erstellte. Zwischen 1989 und 1991 konnte Heise den Bau selbst sanieren. Als 20 Jahre später das Wärmedämmverbundsystem zum Einsatz kam, wandte sich Heise an Behörden und Persönlichkeiten, bis zum Bundespräsidenten, konnte aber die „Verschandelung“ nicht verhindern.  

Eine weitere Kindertagestätte mit 156 Plätzen (1980–82), die heute unter Denkmalschutz steht, konnte Stephan Heise in Berlin-Schöneberg bauen. Der dreigeschossige Terrassenbau verjüngt sich zur Straßenfront und entwickelt sich entlang der Brandwand des Nachbarhauses in das Grundstück hinein. Die Gruppenräume haben entweder direkten Zugang zu den Terrassen oder in den Garten. Auch hier arbeitete Heise mit der Künstlerin Susanne Riée zusammen. Zur Form des Gebäudes sagte er selbst, „das Haus sieht so aus, weil es als Ganzes und in Teilen, den Bedürfnissen der Menschen vor Ort zwanglos entspricht. Deshalb sieht es wie ein Hügel-Schiff aus: Halb Hügel, halb Schiff.“
 

Hoffassade der Kita in Schöneberg (Foto © Eduard Kögel)
Nische im Flur der Kita in Schöneberg (Foto © Eduard Kögel)
Evangelische Gemeindehaus Kladow

Nach einem gewonnenen Wettbewerb baute Heise ein neues evangelisches Gemeindehaus in Kladow (1970–73), das im Volksmund wegen seiner bewegten Formen auch „Kladower Philharmonie“ genannt wurde. Das Dorf Kladow liegt am Wannsee und war zu Mauerzeiten das südwestliche Ende von West-Berlin. Der polygonale Grundriss fügt sich organisch in die Gartenlandschaft ein und die großflächige Verglasung verbindet Innen und Außen. Die Räume liegen auf unterschiedlichen Ebenen und der Hauptraum mit Bühne und Empore eignet sich für vielfältige Nutzungen. Der Baukörper ist wie bei den Bildungsbauten im Märkischen Viertel aus Kalksandstein, hier jedoch sind die Fensterzonen mit naturbelassenem Holz verkleidet. Anfang der Neunzigerjahre konnte Heise eine Sanierung durchführen. Inzwischen steht das Gemeindehaus mit dem angrenzenden Pfarrhaus, das von Heise saniert wurde, unter Ensembleschutz.

In den hier vorgestellten Bauten von Stephan Heise zeigt sich deutlich die Prägung durch Hans Scharoun. Die additiven Grundrisse sind immer von ihrer inneren Funktion entwickelt und mit gefalteten Fassaden oder geneigten Dachflächen zu einem vielgestaltigen Ganzen zusammengeführt. Die Verbindung zwischen Innen und Außen, die komplexen Übergangsräume und Vorzonen, schaffen informelle Kommunikationsflächen die auf unterschiedlichste Weise immer wieder neu an sich verändernde Nutzungen angepasst werden können. Seine komplexe Architektur, die auch stark durch Materialität und sensible Farbekonzepte geprägt war, ist bis heute eine Einladung an die Nutzer sich in kreativer Kontemplation inspirieren zu lassen.

Stephan Heise äußerte in den Gesprächen mit mir immer wieder die Sorge, dass eine energetische Sanierung seine Bauten entstellt und letztlich ihren Charakter zerstört. Dazu gehörte für ihn auch das ausgeklügelte Farbkonzept, das auf ähnliche Weise alle seine Bauten prägte. Als abschreckendes Beispiel diente ihm die unsensible Sanierung der Kindertagesstätte im Märkischen Viertel. Während die zweite Kindertagestätte und das evangelische Gemeindehaus heute unter Denkmalschutz stehen, wurde die Jugendkunstschule ATRIUM zwischen 2018 und 2020 energetisch saniert. Dabei verzichtete man auf eine Außendämmung der Wände um das charakteristische Sichtmauerwerk zu erhalten. Bei der Erneuerung des Anstrichs und der Fensterfarben, wurde jedoch die nuancierte farbliche Komposition wenig sensibel durch grobe und harte Kontraste ersetzt.
 

Grundriss des evangelischen Gemeindehauses in Kladow (Plan: Archiv Stephan Heise)
Bürotrakt am evangelischen Gemeindehaus in Kladow (Foto © Eduard Kögel)
Wendeltreppe im evangelischen Gemeindehaus in Kladow (Foto © Eduard Kögel)

Projektliste Stephan Heise
(Auswahl)

  • Wilhelm-Raabe-Grundschule, heute Jugendkunstschule ATRIUM, Märkisches Viertel Berlin 1965–70
  • Kindertagestätte, Märkisches Viertel Berlin 1970–73
  • Evangelisches Gemeindehaus, Berlin-Kladow 1970–73
  • Kindertagesstätte, Berlin-Schöneberg 1980–82

Architekt Chen Kuen Lee sah das Bauen als die Fortsetzung der Landschaft mit anderen Mitteln, um so das alltägliche Leben der Nutzer mit der Natur zu verknüpfen – lange bevor Ökologie ein Schlagwort war. Lee arbeitet zwischen 1937 und 1941 sowie 1949 bis 1954 bei Hans Scharoun, den er als seinen Meister ansah. Im Rückblick wird deutlich, dass es eine gegenseitige Einflussnahme war, denn im Diskurs mit ihm lernte Scharoun etwas über die traditionelle chinesische Philosophie, die den Menschen als Teil der Umwelt sieht. Eduard Kögels Artikel zum Architekten erschien bei uns im Mai.

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