Die Tiefen des Raums

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ch
Publié le
oct. 27, 2010

Die Diskussion um einen Spatial Turn währt nun schon eine Weile. Sie könnte auch von Städtebauern und Architekten fruchtbar genutzt werden, vorausgesetzt, dass sie mit den verschiedenen Raumbegriffen umgehen können. Die Redaktion von german-architects.com stellt sie vor und zur Diskussion.
 
Wem ist es nicht schon einmal begegnet, das so oft belächelte Zitat Heinrich Heines von 1843: "Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig." Doch soviel anders waren die Reaktionen angesichts neuer Medien nicht, als diese in den 1980er Jahren begannen, ihren Siegeszug anzutreten. Wieder war vom Verlust oder der Vernichtung des Raums gesprochen worden. In jüngster Zeit wird nun von einer Raumwende oder einem Spatial Turn gesprochen. Es waren erster Linie die Sozialwissenschaften, die Geografie und die Kulturwissenschaften, die diese Wende zunächst diskutierten und nun den Raum gleichwertig zur Zeit als Bezugsgröße ihrer Untersuchungen verstanden wissen wollen. Wie selbstreferentiell diese Diskussion auch immer entstanden sein mag: Architektur und Städtebau könnten von ihr profitieren. Voraussetzung dafür ist allerdings, nun nicht zu tradierten Vorstellungen zurückzukehren, oder das "Materielle zu fetischisieren (...), denn mittelfristig würde dies das Ende der Kritikfähigkeit bedeuten, wenn dem Faktischen als solchem schon Geltung zuerkannt wird." (Stephan Günzel). Der Akt der Aneignung, der Nutzung, der Verwandlung würde ausgespart. Und genau darin liegt das Wesen des Spatial Turn, wie er in den genannten Wissenschaften diskutiert wird, dass Körperlichkeit und reale Aktion im Raum Zusammenhänge formen, die ihn der sozialen, ökonomischen und kulturellen Praxis erst zugänglich machen. Für Architektur und Städtebau heißt das: Erst in den Alltagspraktiken wird konstituiert, was als Raum zu einer Kategorie der Sinnkonstruktion wird.
 
Raum ist immer relativ
In diesem Zusammenhang eine bedeutende Position nimmt der relationale Raumbegriff ein, den die Soziologin Martina Löw eingeführt hat: Der relationale Raum ist einer, in dem Menschen und soziale Güter zueinander platziert und – das ist genauso wichtig – durch eine geistige Syntheseleistung zusammengefasst werden. Das scheint zunächst selbstverständlich zu sein – ohne eine Einbeziehung des Menschen als Akteur ist das Reden von Räumen genauso sinnlos wie das von allen anderen Dingen auch. Dabei geht es aber um mehr. Es geht darum, das Spannungsverhältnis zu konkreten materiellen Räumen, ihren materiellen Bedingungen, ihren fixierten Bedeutungen, ihren Zugangsbedingungen einerseits und ihrer im Gebrauch befragten sozialen Relevanz, ihrem Potenzial als "strategische Ressource im gesellschaftlichen Kräfteverhältnis" (Löw) und damit ihrer Variabilität der Bedeutungszuschreibung andererseits zu verstehen. Die Bewertung von Raum ist damit genausowenig unabhängig von der Praxis seines Gebrauchs wie er nur durch diesen konstituiert wird.
Wie weit dabei eine möglicherweise über Jahrzehnte sedimentierte Bedeutungskonstellation von Orten die Möglichkeiten der Raumgestaltung determiniert, untersucht derzeit das Forschungsprojekt zur Eigenlogik der Städte. Darin wird gefragt, welche Sinnhorizonte in einer Stadt bestimmen, wie Setzungen darin eingebettet werden können, um wieder zur Voraussetzung für Sinnkonstruktionen gesellschaftlicher wie individueller Art zu werden. Das betrifft auch Architektur und Städtebau: In einer Stadt, in der die Frage der Orientierung an Geschichte keine Rolle spielt, erzeugt auch die Rekurrierung auf die Geschichte der Stadt keine Orte, an denen dieser Bezug als räumliche Qualität erkannt wird.
Architektur und Städtebau können demnach genauso scheitern, sprich nicht angenommen werden, wie Marketingkampagnen verpuffen können, wenn sie den Nerv der jeweiligen Eigenlogik nicht treffen. Und das gilt nicht nur für Städte, sondern etwa auch für Quartiere oder kleinere räumliche Einheiten.
 
Raum entsteht durch den Gebrauch – nicht vorher
Architekten und Städtebauer werden darin ausgebildet, Räume materiell und atmosphärisch in Material und durch Grenzziehungen zu artikulieren. Die Fetischisierung des Materials, von der Günzel spricht, warnt nun davor, die durch diese Praktiken produzierten Qualitäten überzubewerten, und damit auch davor, durch die Qualität eines Raums seine Nutzung und die Form seines Gebrauchs meinen determinieren zu können – eine städtische Raumform kann die Art ihres Gebrauchs allein nicht bestimmen, auch wenn sie die Voraussetzung dafür ist. Dass sich Architekten dagegen wehren, die Art des Gebrauchs der von ihnen produzierten Räume zu akzeptieren zeigt sich an einem weit verbreiteten Desinteresse des Umgangs der Architektur durch den Nutzer. Aber diese Kritik darf nicht das Kind mit dem Bade ausschütten – der Umkehrschluss, nachdem es keine Rolle spiele, was Architekten anzubieten hätten, ist ebensowenig richtig. Es kann ja selbst eine vermeintliche Ignoranz gegenüber der architektonischen Idee das Wesen einer Sinnkonstruktion ausmachen. Architekten sollten also genau beobachten, Mut zur prägnanten Setzung haben und gelassen damit umgehen, wie die Menschen sie gebrauchen – und dann wieder den Mut haben, daraus Schlüsse zu ziehen. Das wird um so wichtiger, als ja der Umbau der Städte die Zukunftsaufgabe ist.
Die Rolle der Stadt als räumlicher Zusammenhang bekommt demnach gerade dadurch seine besondere Bedeutung, dass sich in ihm auch andere soziale Prozesse artikulieren. Dass in der Stadt über den Raum auch andere Politikfelder verhandelt werden, zeigt deren Bedeutung, die von der Politik merkwürdigerweise immer noch unterschätzt wird. Das gilt auch für die Praxis des Protestes. Erst die Verortung im Raum erlaubt es, die Kritik als sinnstiftende erlebbar zu machen. So sei beispielsweise in Hamburg der Protest gegen den liberalisierten Wohnungsmarkt auch ein prinzipieller gegen die derzeitige Sozialgesetzgebung, der, wie es ein Vertreter des Netzwerks "Recht auf Stadt" gegenüber der Redaktion von german-archtiects äußerte, ohne den Raumbezug nicht wahrnehmbar artikuliert werden könnte.
 
Ein kontinuierlicher Prozess
Wenn Architekten und Städtebauer lernten, die Unsicherheit darüber zu ertragen, wie ihre Angebote angenommen werden, wenn sie es nicht als Scheitern ansähen, wenn Räume anders genutzt werden, als von ihnen geplant, sondern dies als Teil eines fortlaufenden Prozesses der Produktion und der Konstruktion von Stadt und gesellschaftlichem Raum verstünden, dann könnten sie dies im Sinne Baudrillards auch tröstlich interpretieren: "Die Architektur hat noch eine Zukunft aus dem einfachen Grund, weil noch kein Gebäude, kein Architekturobjekt erfunden wurde, das das Ende aller anderen bedeuten würde, das das Ende des Raumes bedeuten würde – und ebensowenig eine Stadt, die das Ende aller anderen Städte bedeuten würde, noch ein Gedanke, der das Ende aller Gedanken bedeuten würde. Das ist der große Traum von allen, doch so lange er nicht realisiert wird, besteht noch Hoffnung." Wir werden dem weiter nachgehen. ch
Quellen und Literaturhinweise
Jean Baudrillard: Architektur: Wahrheit oder Radikalität? Literaturverlag Droschl, Graz/ Wien 1999

Jörg Döring und Tristan Thielmann (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Transcript Verlag, Bielefeld, 2008

Jörg Dünne und Stephan Günzel (Hg., in Zusammenarbeit mit Hermann Doetsch und Roger Lüdeke: Raumtheorie – Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Suhrkamp Verlag, Berlin/ Frankfurt am Main 2006

Stephan Günzel: Topologie und städtischer Raum, in: der architekt, Ausgabe 3/08, Berlin

Martina Löw: Soziologie der Städte. Suhrkamp Verlag, Berlin/ Frankfurt am Main 2008

Martina Löw: Raumsoziologie. Suhrkamp Verlag, Berlin/ Frankfurt am Main 2000

Heiner Moldenschardt (Herausgeber im Auftrag der Akademie der Künste): Stadt-Raum. Orte sozialer Raumbildungen. Akademie der Künste, Berlin 2007

Aktuelles Forschungsprojekt Eigenlogik der Städte