Vielfalt erwünscht

SMAQ
23. septembre 2020
Entwicklung des Sanierungsgebiets Rathausblock Dragonerareal in Berlin Friedrichshain-Kreuzberg (Modellfoto: SMAQ)
Im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg soll auf einem circa fünf Hektar großem Grundstück, dem Dragonerareal im Sanierungsgebiet Rathausblock ein innerstädtisches Quartier für Wohnen, Gewerbe, Kultur und soziale Einrichtungen entwickelt werden. Welche Ausgangssituation haben Sie vorgefunden?

Das Dragonerareal ist eine – gleichzeitig versteckte und als solche bekannte – innerstädtische produktive Nische auf dem Gelände der 1850 gebauten Garde-Dragoner-Kaserne. Es wurde wenig später Teil der gründerzeitlichen durch Blockrandbebauung gekennzeichneten Stadterweiterung. Es wird seit den 1920er Jahren als Gewerbestandort insbesondere für Automobilität genutzt und ist als Denkmalbereich geschützt. Die ehemaligen Reitställe der Kaserne und Garagen prägen das Areal und werden heute durch Kfz-Werkstätten, Künstler*innen, eine Taxischule, einen Live-Club und Bio-Supermarkt genutzt und mit Leben gefüllt. 

Neben dieser physischen Dimension gibt es eine organisatorische, in Form einer sehr engagierten Zivilgesellschaft, die in einem mehrere Jahre andauernden Prozess für die Re-Kommunalisierung des Areals gekämpft hat. In einer Kooperationsvereinbarung zwischen Vertretern der Zivilgesellschaft, dem Bezirk, Senat, dem landeseigenen Immobiliendienstleister für Gewerbe und Verwaltung BIM und der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft WBM wurde eine gemeinwohlorientierte und kooperative Quartiersentwicklung unter Erhalt des Gewerbes und zur Erstellung von leistbaren Wohnen beschlossen. Diese war Grundlage des Verfahrens und ist auch Grundlage der weiteren Planung. 

Blick zum Rathaus (Visualisierung: SMAQ / MML)
Welches sind die Kerngedanken Ihres Entwurfs?

Die städtebauliche Figur verfolgt die Absicht die historischen Schichten des Areals lesbar zu machen und einen klimaaktiven Freiraum zu schaffen, der zur Vernetzung mit dem Stadtteil beiträgt. 

Dazu wurde durch die vorgeschlagene Bebauung die historische Differenz zwischen der ehemaligen Kasernenanlage und der gründerzeitlichen Blockrandbebauung herausgearbeitet und ein freizugänglicher Freiraum aufgespannt, der als großzügige Durchwegung durch den Block dient. Die Hinterhöfe der Blockrandbebauung werden zu neuen Vorderseiten. Ein Hochhaus im Zentrum kommuniziert diese neue Ausrichtung weithin sichtbar. Der Ausgangslage werden kontrastierende und ergänzende Gebäudequalitäten hinzugefügt, die dem energetischen und kosteneffizienten Gebot nach Kompaktheit Rechnung tragen.

Auf programmatischer Ebene ist der Entwurf geprägt durch Offenheit, Wandlungsfähigkeit und Aneignungsfähigkeit. Nutzungsschwerpunkte sind 500 bezahlbare Wohnungen und Raum für 20.000 m2 lautes Gewerbe.

Die bestehenden Gebäude der Kaserne sind eine wichtige Ressource, um eine Vielfalt an zusätzlichen Nutzungen im Quartier anzusiedeln. Das Quartier ist ebenerdig mit gewerblichen und gemeinwohlorientierten Funktionen unterlegt. Hohe Erdgeschosse erlauben eine flexible Nutzung – auch in der Kombination Wohnen und Arbeiten. Es bleiben Nischen, die nicht von Beginn an programmiert werden, um ein Wachsen und eine Ausdifferenzierung des Quartiers über längere Zeit prozesshaft zu ermöglichen. Durch eine Vielzahl unterschiedlicher Situationen zwischen Bestand und Neubau entsteht ein durch die Nutzer interpretierbares Geflecht aus „Bühnen” und Rückzugsorten in den Außen- und Innenräumen. 

Blick vom Rathausplatz emtlang der Grünen Fuge (Visualisierung: SMAQ / MML)
Welche Aufgaben hat die Freiraumplanung zu bewältigen?

Bei einem innerstädtischen, dichten, geschichtlich überformten und gemischten Kontext wie dem Rathausblock ist die wichtigste Aufgabe aus den Anforderungen tatsächliche, das heißt aneignungsfähige und prägnante Freiräume herauszuschälen. Es ist zu klären, wie, trotz Neubau die wertvollen Bestandsbäume und der Lebensraum der Fledermäuse, Wildbienen und Füchse bewahrt werden kann; wie trotz notwendiger Entsiegelung, die historischen Pflasterschichten integriert werden können; wie trotz des notwendigen Nachweises von öffentlichen und privaten Spielflächen, nutzungsoffene und erst im Prozess zu definierende Räume geschaffen werden können; und wie daran anschließend, dem Nutzungsmix entsprechend, aktive „Bühnen” und ruhige Rückzugsorte koexistieren können.

In unserem Entwurf öffnet die „Grüne Fuge” als kommunaler und kooperativer Gartenraum den Block. Durchwegungen, Platzfolgen und Zwischenräume bilden die wesentliche soziale und klimawirksame Infrastruktur. Regenwasser wird als Ressource für Bewässerung und Kühlung durch Verdunstung betrachtet. Die Gehölzstruktur bildet eine weitere infrastrukturelle Säule aus, die biodiverse Lebensräume und Beschattung gewährleistet. Im Zuge der Verdichtung werden Ökologie, Klima und gesellschaftlicher Raum zusammen gedacht. 

Grüne Fuge (Modellfoto: SMAQ)
Können Sie uns durch das erneuerte Dragonerareal führen, als ob es schon fertiggestellt wäre?

Wir hoffen dass das Dragonerareal immerfort im Werden und niemals fertig sein wird, das heißt dass auch wenn die Bebauung umgesetzt ist Nutzungen, Netzwerke und Nachbarschaften weiter wachsen und sich weiter ausdifferenzieren. 

Räumlich gesprochen, wird es zum Dragonerareal viele Zugänge geben. Da wir bereits über die „Grüne Fuge” gesprochen haben, betreten wir das Dragonerareal nun über den wieder geöffneten Tordurchgang in der Mittelachse des ehemaligen Mannschaftsgebäudes der Kaserne, dem heutigen Finanzamt. Dort liegt im Mittelhof der Kasernenanlage die überdachte, viefältig für Märkte, Sport und Events benutzbare Freifläche der ehemaligen Werkstatthalle, die sogenannte Adlerhalle. Dahinter, an der Kreuzung mit der Nord-Süd-Querung durch die Torgebäude der ehemaligen Stallungen steht das Hochhaus, in dessen Sockel vielleicht ein „Idea Store” Bildungsarbeit macht. Rechts von uns liegt der Gewerbehof, in dem die Gewerbetreibenden ein neues Zuhause gefunden haben und sich neue Formen der innerstädtischen Produktion entwickeln; links von uns liegt das mit einem mischgenutzten Erdgeschoss unterlegte weitgehend begrünte Wohncluster; die fünf verschiedene Hofräume darin werden von den Bewohnern bespielt. Wenn wir weiter geradeaus gehen, kommen wir zum sogenannten „Dorfplatz”, um den sich die ehemaligen Reithallen und alte Garagen gruppieren. Hier kommen die direkte und die entferntere Nachbarschaft informell zusammen, zum Kochen, Austausch oder eben, um den Prozess der Ausdifferenzierung des Quartiers zu gestalten.

Forumsplatz (Modellfoto: SMAQ)
Untere Fabrik (Visualisierung: SMAQ / MML)
Was wird die Qualität des neuen Quartiers ausmachen?

Die Qualität des Quartiers wird einerseits baulich-räumlich aus der Vielfalt der unterschiedlichen Situationen bestehen, die im Zusammenspiel von baukulturellem Erbe und Neubebauung entstehen. Programmatisch wird der Wert in der Schaffung eines vernetzten, nutzungsgemischten und nutzungsoffenen Quartiers bestehen, in dem Wohnen, Arbeiten, Kultur und Leben zusammen gedacht werden.

Über diese physischen und funktionalen Eigenschaften hinaus tragen die im Leitbild der Kooperationsvereinbarung festgehaltenen prozessualen, organisatorischen und rechtlichen Aspekte zur besonderen Qualität des Quartiers wesentlich bei. Dazu gehören der dauerhafte Verbleib des Bodens in kommunalem Eigentum oder als Teil eines Bodenfonds, der die gemeinwohlorientierte Nutzung des Areals dauerhaft absichert, bezahlbare Wohnungen und Gewerbeflächen, ein transparentes, inklusives und lernfähiges Verfahren sowie die Ermächtigung eines möglichst großen Kreises an Menschen zur Mitentscheidung. Dabei entstehen neue Verbindungen und es werden Ideen gehört, die andernfalls unberücksichtigt geblieben wären. Wenn es also gelingt das Wissen und die Erfahrungen der Bewohner*innen im Kiez in die Planung des neuen Quartiers mitaufzunehmen, dann kann das Quartier wirklich qualitätvoll werden.

Kiezraum (Visualisierung: SMAQ / MML)
Ist schon ein Rahmenplan in Arbeit?

Zurzeit überarbeiten wir das Ergebnis des Werkstattverfahrens. Hierbei werden Detailpunkte auf unterschiedlichen Ebenen auf Wunsch einzelner KOOP-Partner nachjustiert, die Qualitäten des Ergebnisses aus dem Werkstattverfahren zur besseren Kommunikation noch einmal explizit dargestellt und die Planung unter Beteiligung der Nachbarschaft und Zivilgesellschaft weiter abgestimmt. Die Überarbeitung des Ergebnisses des Werkstattverfahrens dient schließlich als Grundlage eines Bebauungsplans. Außerdem soll ein Gestaltungsleitfaden erarbeitet werden, indem die Ergebnisse aus noch durchzuführenden partizipativen Formate einfließen werden. Hinsicht des Rathausgrundstücks besteht zurzeit noch politische Unsicherheit, ob es in die weitere Planung einbezogen werden kann. Wir bleiben aber alle optimistisch, dass die Grundzüge des Ergebnisses aus dem Werkstattverfahren erhalten und fortgeschrieben werden können. 

Lageplan (Zeichnung: SMAQ)
Sanierungsgebiet Rathausblock Dragonerareal in Berlin Friedrichshain-Kreuzberg
Kooperatives, nicht anonymes Werkstattverfahren
 
Auslober/Bauherr: Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen, Berlin
Betreuer: BSM Beratungsgesellschaft für Stadterneuerung und Modernisierung mbH, Berlin
 
Jury
Prof. Rudolf Scheuvens, Vors.
 
1. Preis
Architekt: SMAQ Architektur und Stadt, Berlin
Landschaftsarchitekt: MAN MADE LAND, Berlin
Fachplaner: Barbara Schindler. KulturKommunikation, Berlin 

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