HH und WW

Ulf Meyer
11. février 2020
Herman Hertzberger im Gespräch mit Wilfried Wang (Foto: Ulf Meyer)

Die Architektur-Diskurse der 1960er-Jahre scheinen zugleich unglaublich fern und verdammt nah zu sein. Fern, weil der Glaube an Technik und Fortschritt, an „demokratisches Bauen“ und an die Auflösung von Hierarchien durch Räume weitgehend ermattet ist. Nah, weil die Fragen der menschenfreundlichen Stadt und Architektur heute so offen sind wie ehedem. Kaum ein zeitgenössischer Architekt verkörpert in Person und Oeuvre den Esprit der 1960er-Jahre so gut und (kalkuliert) charmant wie Herman Hertzberger. 

Sein Vortrag in der Akademie der Künste am Pariser Platz in Berlin geriet zur Abrechnung mit seiner Ära: Denn Hertzbergers Hauptwerk, das Verwaltungsgebäude Centraal Beheer, steht seit Jahren leer und ist vom Abriss bedroht. Obwohl es wie kaum ein zweites Gebäude die Prinzipien des Strukturalismus exemplifiziert. Der Versicherungs-Koloss ist streng modular aufgebaut aus quadratischen, mehrgeschossigen Kuben. Das graue Stahlbeton-Skelett ist mit Gasbetonsteinen ausgefacht. Der Clou sind die inneren „Straßen“ über mehrere Geschosse, zu denen sich Balkone, Brücken und Galerien öffnen. Sie dienen als Besprechungszonen und informelle Treffpunkte und bieten Blickbeziehungen in alle Richtungen. Sie sollen soziale Kontakte fördern und Orte schaffen, an denen man(n) über „Frauen und Fußball reden kann“, wie Hertzberger es recht nonchalant und unzeitgemäß formulierte.

Die Denkmalpflege versagt bei diesem Meilenstein der Moderne. Damit Hertzbergers bekanntestem Bau in Berlin, dem Lima-Hof in Kreuzberg, nicht eines Tages das selbe traurige Schicksal ereilt, findet derzeit ein Aufruf zur Eintragung diese IBA-Wohnhofs am Jüdischen Museum in die Denkmalliste statt, dessen Ausgang offen ist.

Verwaltungsgebäude Centraal Beheer in Apeldoorn, 2009 (Foto: Apdency via Wikimedia Commons [CC BY-SA])

Bei seinem Berliner Vortrag beschrieb Hertzberger die Prinzipien seiner Architektur so: Sie bedarf keiner großen Idee, sie soll vielmehr Menschen zusammenführen und ihnen einen heimatlichen Ort bieten. Sie soll „Raum schaffen, aber dem Menschen auch Raum lassen“, wie Hertzberger es nannte. Architekten sollten nicht versuchen, „alles“ zu entwerfen. Hertzberger mag keine übereinandergeschichteten Geschoss-Ebenen, sondern „Gebäude als ein Raum“, der stadtraum-ähnliche Qualitäten annimmt. 

Hertzbergers Plädoyer für eine „Architektur der Empathie“, eine „Domestizierung von Großgebäuden und Straßen“ hat sich in den letzten 60 Jahren nicht gewandelt. Speziell im Schulbau konnte der Amsterdamer in der zweiten Hälfte seiner Karriere, die vor zwanzig Jahren endete, beweisen, wie meisterlich er es versteht, Räume, Nischen, Treppen, Podeste und Balkone zu komplexen Räumen zu verweben. Seiner Meinung nach genügt es völlig, wenn ein Gebäude ein „Gerüst“ vorgibt, dass die Nutzer selber füllen. Die großzügigen Räume und Verbindungen, die dafür nötig sind, wurden seinem Opus Magnum jedoch ökonomisch zur Falle: Zum „Gemälde, dass von der Öffentlichkeit verändert und fertiggemalt wird“ und von dem Hertzberger träumt, wird sein epochales Gebäude in Apeldoorn leider nicht. 

Für Hertzberger ist Architektur keine unnahbare Kunst („…, denn Architekten sind lausige Bildhauer“, so Hertzberger), sondern ein Dienst am Menschen. Der Ort seines Vortrags sei deshalb falsch gewählt. Hertzbergers Gastgeber, Wilfried Wang, widersprach: Die subtile Gestaltung von räumlichen Filtern und porösen Brüstungen beispielsweise, sei zweifellos eine Kunst. Die junge Generation, die „mit dem Kopfhörer herumläuft und mit Blick auf das allgegenwärtige Smart Phone“ müsse dafür sensibilisiert werden, entsetzt beide. „Wir werden eben alt!“, rief der 87-jährige seinem Gastgeber zum Abschied zu.

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