Botanisch-literarische Figuren

ARGE M. Pernice – Wilfried Kuehn – atelier le balto
24. août 2022
Foto: Alexandre Petzold
Worin liegt das Besondere an dieser Bauaufgabe?

Es gibt Gärten von Jüdinnen und Juden, also jüdische Gärten – und gleichwohl gibt es den „jüdischen Garten“ als spezifischen Typus nicht. Dieses Paradox stand am Anfang unseres Entwurfs. Die Vorstellung eines jüdischen Gartens in den Gärten der Welt Berlin Marzahn fordert daher unser Verständnis eines thematischen Gartens heraus. Worin drückt sich das Jüdische im Garten aus?

Im Gegensatz zu einer Weltausstellung fremder Orte, die zeitweilig in Berlin erscheinen, ist der neue Garten in den Gärten der Welt ein lokaler Garten, der wie die jüdische Kultur zu Berlin gehört. Er erzählt von lokaler Geschichte und lokalem Klima im Kontext jüdischer Erfahrung. Wir haben den jüdischen Garten daher nicht wie einen typologischen Garten von seiner Einfriedung her gedacht, sondern entgrenzt und als sich verzweigendes Wegenetz rahmenlos in die Gärten der Welt eingebettet.

Foto: Alexandre Petzold
Welche Inspirationen liegen diesem Projekt zugrunde?

Teil unseres Entwurfs ist eine künstlerisch-literarische Recherche. Gemeinsam mit Itamar Gov, Hila Peleg und Eran Schaerf haben wir Schriften vor allem jüdischer Autorinnen und Autoren von der Hebräischen Bibel bis zur Gegenwartsliteratur erkundet, die Komplexität, Ambiguität und auch Widersprüche jüdischer Erfahrung so mit Pflanzen verbinden, dass botanisch-literarische Figuren entstehen. 

Nicht die Pflanzen sind jüdisch, sondern die Geschichten jüdischen Lebens, in denen sie vorkommen. So entstand eine Art Bestimmungsbuch mit etwa 80 Einträgen, das auch Pflanzen enthält, die in der konkreten Situation heute nicht anwendbar sind, zum Beispiel aus klimatischen Gründen.

Foto: Alexandre Petzold
Wie reagiert der Entwurf auf den Ort?

Der Ort mit seinen Charakteristiken war der Ausgangspunkt des gesamten Entwurfs: die Topographie, ein leichter Hügel, das Wäldchen im Westen, die drei großen Solitärbäume im Norden, eine Eiche, eine Birke, eine Platane und ein Kirschbaum; der Teich und seine umliegende Vegetation wie auch die große Wiese im Osten und nicht zuletzt der vier Meter breite Hauptweg der Gärten der Welt, welchen wir in seiner Oberfläche modifiziert haben –Natursteinpflaster statt Asphalt – um ihn als Bestandteil des Jüdischen Gartens neu zu definieren. Nach Betrachtung dieser Elemente konnten wir die Wege und die Pflanzflächen in ihren verschiedenen Breiten und Konturen zeichnerisch entwickeln, die zwei Gebilde platzieren und in ihren Verhältnissen zueinander präzisieren. 

Foto: Alexandre Petzold
Wie hat sich das Projekt vom ersten Entwurf bis zum vollendeten Garten verändert?

Der Entwurf hat sich weniger geändert als vielmehr graduell verfeinert. Nur zwei große Änderungen wurden vorgenommen: Die erste war die Ausrichtung der Pflanzen, nachdem deutlich wurde, dass diese vom Regenwasser stärker profitieren würden, wenn sie quer zum Gefälle stehen; Die zweite war die Umstellung einiger Rankhilfen, da diese die Beziehung zwischen den zwei Gebilden störten. Der Pflanzplan wurde fortschreitend im Wechselspiel mit einer historischen und der künstlerisch-literarischen Recherche entwickelt. Die erste hat uns wiederholt bestätigt in der Mischung von Nutz- und Zierpflanzen, die andere hat uns Pflanzengattungen peu à peu geliefert, mit welchen der Pflanzplan komponiert wurde. Auch nach der „Fertigstellung“ bewegen sich die Pflanzen noch. Insbesondere Gemüsepflanzen und Getreide ändern sich saisonal in Varietät und Standort.

Foto: Alexandre Petzold
Beeinflussten gestalterische Tendenzen das Projekt?

Max Liebermanns Garten am Wannsee, den er zusammen mit Alfred Lichtwark entworfen hatte, Max Fraenkels Garten an der Havel oder auch Hugo Simons Mustergut in Seelow – die frühmodernen jüdischen Gärten Berlins zeichnen sich durch eine bewusste Verschränkung von Zier- und Nutzpflanzen aus. Diese Gartenidee folgt keinem fertigen Bild, sondern einem bewussten Gebrauch der Pflanzen und damit einem aktiven Umweltverständnis, das Ausdruck von Haltung und Handlung ist: ein aktiver und sorgend-pflegender Umgang mit der natürlichen Umwelt, durch den Religion, Ästhetik, Bildung und Nutzen zu einem spezifischen Zusammenspiel finden. All dies sollte heute mehr denn je als Grundlage der Gartenkunst wie der Architektur und der Gestaltung unserer Umwelt insgesamt gelten.

Foto: Alexandre Petzold
Foto: Alexandre Petzold
Welche speziellen Produkte oder Materialien haben zum Erfolg des vollendeten Gartens beigetragen?

Das Bernburger Pflaster in verschiedenen Dimensionen, welches für das Berlin des 19. Jahrhunderts typisch ist, kontrastiert mit der Vielfalt der Pflanzen: Man kann dort Erdbeeren und andere Beeren essen, man kann Äpfel, Mispeln, Salat, Minze, Weintrauben pflücken, man kann Kartoffeln, Bohnen und Kohlgewächse ernten. Die Artischocken, Zwiebeln und Knoblauch-Pflanzen dürfen ihre Blüten entwickeln… Die zwei aufeinander bezogenen Gebilde aus Beton bzw. Kunststein unterschiedlicher Oberflächenbehandlung schaffen durch ihre Dächer und Sitzgelegenheiten Orte, die eine große Anziehungskraft für Spaziergänger der Gärten der Welt entfalten.

Rendering: ARGE atelier le balto M. Pernice und Wilfried Kuehn
Skizze: atelier le balto
Skizze: atelier le balto
Skizze: atelier le balto
Foto: Manfred Pernice
Foto: atelier le balto
Skizzen: atelier le balto
Foto: atelier le balto
Foto: atelier le balto
Ein Jüdischer Garten in den Gärten der Welt
2021
Blumberger Damm 44
12685 Berlin
 
Auftragsart
Wettbewerb
 
Bauherrschaft
Grün Berlin GmbH, Mariendorfer Damm 1, 12099 Berlin
 
Landschaftsarchitektur und Architektur
Es war ein künstlerisch-landschaftsarchitektonischer Wettbewerb, den die ARGE M. Pernice – Wilfried Kuehn – atelier le balto gewonnen hat, vertreten wurde die ARGE durch atelier le balto
 
Fachplaner
Tragwerksplanung skulpturale Gebilde: Ingenieurbüro Rüdiger Jockwer GmbH, Berlin
Bauleitung skulpturale Gebilde: Wenzel + Wenzel GmbH, Berlin
 
Ausführende Firmen
GaLaBau: Märkisch Grün, Melchow
Rohbau skulpturale Gebilde: Connex Baugesellschaft mbH, Berlin
Garten und Landschaftsbau: Penta
 
Fläche
2.000 m²
 
Gesamtkosten
2.000.000 €

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