Antonino Vultaggio: „Ich sehe nicht, dass das Home-Office der wesentliche Arbeitsort der Zukunft ist, vielmehr ergänzt dieses die bestehende Vielfalt der Arbeitsformen“

world-architects.com
4. abril 2022
Foto: Chris Rausch © HPP Architekten

Herr Vultaggio, den meisten Deutschen stecken noch die schrecklichen Bilder der Flutkatastrophe in den Knochen. Das Hochwasser hat schmerzlich klar gemacht, dass der Klimawandel eine bedrohliche Realität ist. Beschleunigt sich unter dem Eindruck solcher Ereignisse ein Wertewandel in der Gesellschaft? Bemerken Sie ein gesteigertes Interesse an zukunftsfähiger Architektur?

Antonino Vultaggio: In Düsseldorf nähert sich unser Bürohaus The Cradle der Fertigstellung. Es ist ein Leuchtturmprojekt, bei dem wir unser holistisches Nachhaltigkeitskonzept mit markanter Architektur verknüpfen. Als wir in den Jahren 2017 und 2018 an unseren Entwürfen saßen, mussten wir gewisse Abstriche machen. Nicht alles, was ökologisch wünschenswert und technisch möglich gewesen wäre, konnten wir auch umsetzen. Zum Beispiel hatten wir vor, das Gebäude mit Grundwasser zu kühlen und dieses hernach in den nahen Rhein zu leiten. Weil das Wasser in der Gegend allerdings nitratbelastet ist, wäre komplizierte Technik zur Reinigung notwendig gewesen. Damals fand man, dieser Aufwand sei zu groß für ein einzelnes Projekt. Doch solche Entscheidungen sind immer eine Momentaufnahme. Würden wir das Projekt nämlich mit derselben Bauherrschaft und denselben Fachplanern heute starten, kämen wir wahrscheinlich einen Schritt weiter. Kurzum, die Bereitschaft, ökologische Lösungen zu entwickeln und zu finanzieren, hat in diesem Jahr erheblich zugenommen. Aktuell enthalten so viele Ausschreibungen wie nie Anforderungen, in denen Nachhaltigkeit in unterschiedlichster Couleur eine wichtige Rolle spielt. Durch die oft partikulär nachhaltigen Ansätze fällt es jedoch noch schwer, ein solch ganzheitliches Projekt wie The Cradle zu initiieren.

Warum ist das so?

Allen positiven Veränderungen zum Trotz fehlt es noch an der Bereitschaft, in Sachen Nachhaltigkeit aus eigenem Antrieb mehr zu unternehmen als nötig. Ich denke allerdings, die neue EU-Taxonomie, die helfen soll, die Ziele des Pariser Klimaabkommens – also CO2-Neutralität bis 2050 – zu erfüllen, wird Bewegung bringen. Sie wird direkte Auswirkungen auf die Baubranche haben. Wenn nämlich Auftraggeber ihre Taxonomie-Konformität nachweisen müssen, werden die Anforderungen steigen. Der Trend zu nachhaltigen Gebäuden wird sich verstärken.

Doch noch scheint das nur wenige Firmen zu kümmern. Lieber deklarieren sie alle möglichen Produkte als nachhaltig, weil sie sich dann besser verkaufen lassen.

Diese Intransparenz ist ein Problem für uns Architekten: Ständig müssen wir nachforschen, wie es um die Nachhaltigkeit von Baustoffen und -produkten tatsächlich steht, ob sie Giftstoffe enthalten, wie hoch die CO2-Emissionen und der Wasserverbrauch wirklich sind. Endlos müssen wir uns durch Marketingbroschüren wühlen und kommen doch kaum voran. Das ist mühsam. Wir brauchen endlich Transparenz! Und darum haben wir gemeinsam mit der DGNB (Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen) eine Initiative gestartet, der sich weitere Büros angeschlossen haben, um aus Sicht der Architekten die Materialanforderungen an die Industrie zu formulieren. 

HPP Architekten, The Cradle, Düsseldorf (Visualisierung: bloomimages © INTERBODEN Gruppe / HPP Architekten)
Visualisierung: bloomimages © INTERBODEN Gruppe / HPP Architekten
Visualisierung: bloomimages © INTERBODEN Gruppe / HPP Architekten

Die Bauwirtschaft produziert aktuell Unmengen an Abfall. Auch darauf antworten Sie mit The Cradle: Das Haus ist ein Materiallager. 

Wir haben beim Entwurf die Wiederverwertbarkeit der Bauteile und Materialien von Anfang an mitgedacht. Das bietet nicht nur ökologisch ein großes Potenzial, sondern auch ökonomisch: The Cradle wird als erstes Gebäude in Deutschland auf der Madaster-Plattform registriert – einem globalen Online-Kataster für Materialien und Bauprodukte. Auf diese Weise werden Materialqualitäten und Rohstoffwert digital miteinander verknüpft. Dank der Anbindung von Madaster an die Rohstoffbörse können Gebäude als werthaltige Rohstoffdepots abgebildet werden. Das ist ein wichtiger Schritt hin zu einer funktionierenden Kreislaufwirtschaft und bietet zukünftig den Bauherren beziehungsweise Eigentümern die Möglichkeit, den Materialwert des Gebäudes finanziell zu berücksichtigen.

Lassen Sie uns etwas springen und über einen anderen Aspekt von The Cradle sprechen: Es handelt sich um ein Bürohaus, das haben Sie ja schon eingangs erwähnt. Ist das denn noch zeitgemäß? 

Natürlich! Nur weil wir seit Beginn der Pandemie vermehrt von zu Hause arbeiten, heißt das nicht, dass das Büro als Arbeitsplatz ausgedient hat. 

Warum brauchen wir das Büro weiterhin?

Nach anfänglicher Skepsis zu Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020, habe ich bei einigen Unternehmen durchaus eine gewisse Begeisterung wahrgenommen, dass das Arbeiten von Zuhause so gut funktioniert. Doch schon im Sommer des ersten Pandemiejahres hat sich eine gewisse Ermüdung eingestellt und viele haben sich auf das Arbeiten im Büro gefreut. Bei allen Vorteilen verlangt überwiegendes Arbeiten im Home-Office den Menschen nämlich viel ab. Es ist zum Beispiel viel schwieriger, einen guten Austausch mit den Kollegen zu haben. Man muss dafür wesentlich aktiver sein als im Büro, muss nachfragen und Calls organisieren, um informiert zu bleiben. Auch leidet die soziale Komponente darunter. Digitale Meetings und Telefonate, WhatsApp-Nachrichten und E-Mails können die persönliche Interaktion einfach nicht ersetzen. Ich sehe nicht, dass das Home-Office der wesentliche Arbeitsort der Zukunft ist, vielmehr ergänzt dieses die bestehende Vielfalt der Arbeitsformen.

Visualisierung © INTERBODEN Gruppe
Visualisierung © INTERBODEN Gruppe
Visualisierung © INTERBODEN Gruppe
Visualisierung © INTERBODEN Gruppe

Wie werden wir das Büro zukünftig nutzen? Und was bedeutet das für die Gestaltung von Bauten wie The Cradle?

Die emotionale Bedeutung des Büros wird wachsen. Das Büro der Zukunft wird ein Ort des Austausches und der Inspiration sein. Gerade kreative Prozesse werden weiterhin an Orten stattfinden, an welchen Menschen miteinander interagieren. Für uns Architekten heißt das, dass wir unseren Fokus darauf richten sollten, Orte zu gestalten, an denen Menschen gerne zusammenkommen. Gleichzeitig muss natürlich auch konzentriertes Arbeiten weiterhin möglich sein. Das heißt, es müssen verschiedene Angebote geschaffen werden, aus denen die Mitarbeiter je nach ihrer aktuellen Aufgabe auswählen können. Dies allerdings ist keine wirklich neue Erkenntnis. Der Trend wies schon vor der Pandemie in diese Richtung. Die Corona-Krise hat sich als Inkubator erwiesen, doch sie hat die Entwicklung nicht ausgelöst.
Und da Sie konkret nach The Cradle fragen – wir haben dort grundsätzlich genau das gemacht. Der Innenausbau ist modular, um für große Flexibilität in der Nutzung zu sorgen. Wichtig war uns zudem, eine besondere Atmosphäre zu schaffen. Darum haben wir den Themen Behaglichkeit und Luftqualität besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Holz ist überall im Gebäude sichtbar. Durch die besondere Fassadenkonstruktion, die auch gleichzeitig den Sonnenschutz bietet, bleibt der Hafenblick immer erlebbar – anders als in den umgebenden Büros, wo der Sonnenschutz heruntergefahren wird und während der Sommermonate dunkle Innenräume entstehen. Für eine hohe Raumluftqualität sorgen eine ausgefeilte Technik, aber auch Lowtech-Lösungen wie begrünte Wände. Außerdem haben wir auf giftige Chemikalien wie Teppichklebstoffe und PVC verzichtet.

Antonino Vultaggio wurde 1972 in Offenbach geboren. Nach seinem Architekturstudium in Frankfurt am Main arbeitete er bei KSP Jürgen Engel Architekten – zunächst in der Bearbeitung von Wettbewerben, seit 2007 als stellvertretender Leiter Entwurf. 2010 kam er zu HPP, wo er die Leitung des Entwurfs übernahm und 2012 zum Projektpartner der HPP Architekten GmbH berufen wurde. Seit 2018 ist Antonino Vultaggio Partner bei HPP, 2021 wurde er in den Gesellschafterkreis berufen. 
 
New Work, Sustainability und Home-Office im Fokus
Unter dem Motto „Home of Consumer Goods“ finden vom 3. bis 7. Februar 2023 erstmalig die Ambiente, die Christmasworld und die Creativeworld zeitgleich auf einem der modernsten Messegelände der Welt statt. Besonders die neue Ausgestaltung des Produktbereiches Working unter dem Dach der Weltleitmesse Ambiente schafft zukunftsorientierte Impulse. Denn bei Ambiente Working dreht sich alles um die Themen Bürobedarf und Büroausstattung – im Hinblick sowohl auf das klassische Office, aber auch mobiles Arbeiten, Home-Office, Co-Working-Spaces und Future of Work.
www.consumergoods-frankfurt.com | www.ambiente.messefrankfurt.com/working
 
Future of Work Academy digital im Vorfeld der Ambiente in Frankfurt
Die Future of Work Academy richtet sich an Architekten, Facility Manager und Planer wie auch an Händler für Bürobedarf und -einrichtungen. Nach seiner erfolgreichen Premiere 2017, beleuchten dieses Jahr insgesamt vier Vorträge die derzeitigen Veränderungen der Arbeitswelt, digitale Lösungen zur Zusammenarbeit sowie nachhaltige Konzepte für einen modernen Arbeitsplatz. Die Future of Work Academy liefert online im Vorfeld der der Ambiente am 2. Mai 2022 von 14 bis 17 Uhr Vorträge, die jeweils anderen Sichtweisen auf das Thema Arbeit Raum geben. 

Anmeldung zu den Online-Vorträgen am 2. Mai 2022 mit Peter Ippolito (Ippolito Fleitz Group), Jessica Borchardt (BAID Architekten), Margit Sichrovsky (LXSY Le Roux Sichrovsky Architekten), Petra Pfeiffer und Andreas Moser (Moser Assoziierte Architekten)
​Ambiente Working – Future of Work Academy – Anmeldung

World-Architects ist Content-Partner der Messe Frankfurt.

Otros artículos de esta categoría