Neustrelitzer Turmrekonstruktion in der Schwebe

Manuel Pestalozzi
17. enero 2023
Als die gebaute Welt noch intakt war, ragte der Schlossturm aus dem Hauptvolumen in den Himmel über Neustrelitz. Die kolorierte Aufnahme entstand vor rund 100 Jahren. (Foto: Residenzschlossverein Neustrelitz e. V./Wikimedia Commons)

Das Schloss Neustrelitz, entstanden ab 1726, war der erste Bau der späteren Residenzstadt Neustrelitz. In Auftrag gegeben wurde es von der Gemahlin von Adolf Friedrich III., Herzog zu Mecklenburg. Sie beschaffte sich Geld von Verwandten aus Holstein und ließ das Glienecker Jagdschloss mithilfe von Strelitzer Bürger*innen und Architekt Julius Löwe zu einem dreigeschossigen massiven barocken Fachwerkbau in Hufeisenform um- und ausbauen – ohne Wissen des Herzogs. Die Nachkommen ergänzten die Anlage zu einer barocken Residenz. Von 1905 bis 1909 wurden an den Westflügel drei weitere Flügelbauten angefügt. Der Turm ist Teil dieser Erweiterung, er soll durch den Turm des Schlosses Charlottenburg inspiriert worden sein. Das Schloss Neustrelitz, das von 1918–1934 als Landtag des Freistaates Mecklenburg-Strelitz diente und anschließend eine Führerschule für Leibeserziehung des Reichserziehungsministeriums beherbergte, wurde 1945, unmittelbar vor dem Kriegsende, weitgehend zerstört. Die verbliebene Ruine wurde 1949 gesprengt und bis 1950 abgetragen.

Da sich der weithin sichtbare Schlossturm, vom Markt aus betrachtet, annähernd auf einer Fluchtlinie mit der Schloss-Straße befand, gewann er eine große Bedeutung für die stadträumlichen Blickbeziehungen. Er wurde zum Wahrzeichen der Stadt und für Mecklenburg-Strelitz. Deshalb erhält er die größte Aufmerksamkeit bei den aktuellen Plänen für einen „Wiederaufbau“ des verschwundenen Schlosses. Für diesen formierte sich 1998 in Neustrelitz der „Residenzschlossverein Neustrelitz e.V.“. Er hat sich die „Wiederbebauung des Neustrelitzer Schlossberges im historischen Sinne sowie den Erhalt des barocken Gesamtensembles der Residenzstadt“ in die Satzung geschrieben. Ab 2001 erinnerte eine Zeltfassade für einige Jahre an den Mittelrisaliten des Schlosses, daneben wurde eine Aussichtsplattform mit den Umrissen des einstigen Turms aufgestellt. Ein umstrittenes Projekt ist die Bewahrung des noch existierenden Schlosskellers. Ihm droht die endgültige Verschüttung, die sich bisher verhindern ließ.

In Sandstein wird es teuer

Die Turm-Träume konkretisierten sich 2018, als ein Angebot des Landes Mecklenburg-Vorpommern für eine Kostenbeteiligung erfolgte. Allerdings entspann sich auch gleich eine Kontroverse über den Charakter des „Wiederaufbaus“, der bestenfalls eine Rekonstruktion wäre. Der Residenzschlossverein wünschte sich einen originalgetreuen Neubau, ein involvierter Architekt und ein Stadtvertreter verwendeten sich für einen Turm, der zwar an das Original erinnern soll, dieses aber nicht imitiert. Der Verein setzte sich durch: Am 24. Oktober 2019 stimmten die Neustrelitzer Stadtvertreter mehrheitlich für den Entwurf einer Vereinbarung mit dem Land Mecklenburg-Vorpommern zur Entwicklung des Schlossbergareals. Gemäß diesem soll der 51 Meter hohe Schlossturm im Äußeren entsprechend seinem historischen Vorbild wieder aufgebaut werden.

Möglicherweise ist der Wunsch nach einer originalgetreuen Replika das größte Risiko für das Vorhaben. Denn diese wird teuer. Zwar haben Land wie Bund finanzielle Unterstützung in Aussicht gestellt, doch die Stadt äußert aus finanziellen Gründen mittlerweile Zweifel an der Realisierbarkeit des Vorhabens, wie ndr.de berichtet. Bisher seien rund 7 Millionen Euro für den neuen Turm kalkuliert worden. Die Kostenermittlungen sind schon mehr als zwei Jahre alt. Konventionelle Neubauten kosten nach dem Ermessen der zuständigen Stellen in Neustrelitz heute rund 35 Prozent mehr als noch vor zwei Jahren. Beim Schlossturm gehe es um eine originalgetreue Rekonstruktion mit aufwendiger Sandsteinfassade. Deshalb seien Gesamtkosten des Projekts derzeit „unwägbar“. Das Urteil beruht auch auf der angespannten Finanzlage der Stadt, wie strelitzius.com meldet. Diese müsste Eigenmittel aufbringen. 

Die Bürger*innen von Neustrelitz werden vermutlich noch einige Zeit auf die Rückkehr ihres Turms warten müssen. Vielleicht erhalten dadurch jene Stimmen mehr Gewicht, die ein entspannteres, nicht auf einer originalgetreuen Rekonstruktion beharrendes Vorgehen bei „Wiederaufbauten“ befürworten.

Otros artículos de esta categoría