Kleine Häuser, große Fragen

Martina Metzner
15. julio 2021
„The Embassy of the Refugee” von Mia Rollow & Caleb Duarte (Foto: tinyBE, Fotografie Wolfgang Günzel)

Nicht schon wieder ein Tiny House-Projekt, mag man denken, wenn man dem begegnet, was seit dem 26. Juni 2021 in der Region Frankfurt/Rhein-Main installiert wurde. Das Projekt tinyBE versucht es jedoch anders. Vor drei Jahren mobilisierte die Kunstmanagerin Cornelia Saalfrank nicht Wenige mit der Frage: Was passiert, wenn Künstler Tiny Houses gestalten? Sie konnte internationale Persönlichkeiten für ihre Projekt gewinnen: Etwa den documenta-Veteranen Thomas Schütte, den expressiven Künstler Sterling Ruby, aber auch weniger bekannte wie Onur Gökmen, Absolvent der Städelschule. Seit der Eröffnung bilden insgesamt acht Positionen Tag und Nacht frei zugänglich, sechs am Hauptort im Metzler Park, der zum Museum Angewandte Kunst in Frankfurt am Main gehört, und jeweils ein Pavillon in Darmstadt und Wiesbaden, einen frei begehbaren Skulpturenpark.

Die Skulptur des Künstler-Kollektivs MY-CO-X besteht aus Pilzmyzelien. (Foto: tinyBE, Fotografie Wolfgang Günzel)
Manchmal raucht der Ofen von Sterling Ruby. (Foto: tinyBE, Fotografie Wolfgang Günzel)

Unweigerlich muss man an den Serpentine Pavillon im Hyde Park in London denken, um den herum ein umfangreiches Kultur- und Eventprogramm stattfindet. Ähnlich macht es tinyBE. Der Diskurs wird angeregt durch die eigenwilligen kleinen „Sein-Einheiten“ – Skulpturen, Erdhöhlen, Baumhäuser, Zelte, Türen, ja auch ein Ofen ist darunter. Wie wollen wir leben? Wie wollen wir wohnen? Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? All die Künstler beantworten diese Fragen, die teilweise auch auf der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig behandelt werden, höchst unterschiedlich. Kommt man vom Main in den Metzler Park, so stößt man auf ein Kunstwerk, das aus dem Nachlass der bereits verstorbenen Künstlerin Charlotte Posenske stammt. Wie auf dem Kinderpielplatz lassen sich vier schlichte, graue Türen auf- und zuklappen, sodass sie entweder eine geschlossene Wand oder mehrere Öffnungen ergeben. So erfährt man ganz direkt, was es heißt, ausgeschlossen zu sein oder hereingelassen zu werden. Passend dazu steht nicht unweit davon ein Zelt, das umrahmt wird von einem goldfarbenen Gerüst. Dieses eindrückliche Werk hat das Duo Mia Eve Rollow & Caleb Duarte zusammen mit einer Gruppe von Geflüchteten geschaffen. Ist etwa das, was sie nach ihrer beschwerlichen Reise und dem Leben in Notunterkünften in den Zielländern erwartet, nicht etwa Freiheit, sondern ein goldener Käfig?

Drinnen oder draußen?, vermittelt „Serie E“ von Charlotte Posenske (†1985). (Foto: tinyBE, Fotografie Wolfgang Günzel)
Alison Knowles probiert Lehmdruck für ihr tinyBE in Wiesbaden aus. (Foto: tinyBE, Fotografie Wolfgang Günzel)

Was aber wollen uns ein Ofen, ein Haus aus allerlei natürlichen Fundstücken und mehrere erdhügelartige Gebilde vermitteln? Offensichtlich ist es die Frage, wie sich der Mensch zur Natur verhält, wie er, nachdem er sich so wirkungsvoll in die Erdgeschichte eingeschrieben hat, dass man vom Anthropozän spricht, sich zu Erde und Kosmos neu in Beziehung setzen könnte. Mit dem Kunstwerk von Laure Prouvost, für das zwei tiefe Löcher gegraben und ein künstlicher Teich im Metzlerpark angelegt wurde, ist die wohl stärkste Geste dazu entstanden. Und die medienwirksamste zugleich. „In diesem Gras-Busen kann man schlafen!“, titelte die BILD-Zeitung – tatsächlich kann man in den Skulpturen von tinyBE gegen Gebühr übernachten. Prouvost beschäftigt sich mit dem weiblichen Körper, Mutter Erde und dem Kreislauf des Lebens. Man muss tief in die Erde; in der Höhle erwartet einen dann ein gemütliches Bett. Blickt man nach oben, so schaut man durch eine Lichtkuppel in Form einer riesigen Brustwarze, deren kleine Schwester-Brustwarze auf dem Hügel daneben auch Wasser versprüht. Wahrscheinlich ist die stärkste Kunst die, die auf unterschiedlichen Ebenen viele Menschen erreicht.

Häuschen hat Thomas Schütte schon einige entworfen, das „Spartà Hut“ erinnert an einen Briefkasten. (Foto: tinyBE, Fotografie Wolfgang Günzel)
Busenartig: „Boob Hills Burrows“ von Laure Prouvost (Foto: tinyBE, Fotografie Wolfgang Günzel)

Einige Skulpturen berühren auch ganz konkret Fragen der Architektur – nicht nur, weil jedem Künstler ein Architekt für konstruktive Fragen zur Seite stand. So fordert Christian Jankowski mit seinen „Bodybuildings“ den Umgang mit den Heroen der Moderne heraus wie Mies van der Rohe sowie bald auch noch Le Corbusier und Gropius, deren „Kopf“ man begehen kann. Was wird von all dem bleiben? Was ist wirklich genial? Und wird der heilige Beton bald durch Super-Naturmaterialien wie Pilzmyzelien oder Stampflehm abgelöst, aus denen weitere tinyBE-Pavillons gebaut wurden? Thomas Schütte, der einen Holzbau in Briefkastenform in den Park setzt, stellt die vielleicht konkreteste Frage zum Thema Minimal Living: Ist die Sehnsucht nach dem Leben in einem kleinen, im Wald oder am Stadtrand installierten Häuschen nichts als eine romantische Utopie? Und schon gar nicht die Lösung für all die Probleme, die wir uns selbst geschaffen haben?

Mit „Spiral Home“ hat sich Terence Koh aus vorgefundenen Materialien ein Traumhaus gebaut. (Foto: tinyBE, Fotografie Wolfgang Günzel)
Christian Jankowski lädt mit „Bodybuilding” ein, in den Kopf von Mies van der Rohe zu gehen. (Foto: tinyBE, Fotografie Wolfgang Günzel)

Jetzt schon lässt sich sagen: tinyBE ist das Kunsthighlight der Saison in Frankfurt/RheinMain – und das nicht nur aufgrund coronakonformer Besichtigungsmöglichkeiten. Es sind Kunstwerke, die uns die drängendsten Fragen unserer Zeit physisch erfahrbar machen. Insofern schafft es tinyBE vielleicht, dass der Begriff Tiny House zukünftig doch nicht nur ein müdes Lächeln hervorruft.

tinyBE – living in a sculpture
noch bis zum 26. September 2021

Frankfurt am Main (Metzlerpark), Wiesbaden (Kranzplatz), Darmstadt (am Hessischen Landesmuseum)

Eintritt frei

www.tinybe.org

Kuratiert von Cornelia Saalfrank

Mit Positionen von Onur Gökmen, Christian Jankowski, Alison Knowles, Terence Koh, MY-CO-X, Laure Prouvost, Mia Eve Rollow & Caleb Duarte, Sterling Ruby, Thomas Schütte und Charlotte Posenske

Unter Mitwirkung der Architektur- und Ingenieurbüros sowie Hochschulen: 
Fischer + Werle Ingenieurbüro, Ralf Gröninger Büro für Tragwerksplanung, Schmitt + Thielmann Ingenieurgesellschaft mbH, Zaeske Architekten BDA, Prof. Dr. Christoph Gengnagel, Diego Apellaniz vom Fachgebiet Entwerfen und Tragwerkslehre, Universität der Künste, Berlin, Prof. Dr. Klaus Dreiner mit Tim Peters vom Fachbereich Holzingenieurwesen, Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde, Tassilo Goldmann (wood construction) von der UdK Berlin, Koeber Landschaftsarchitektur, Bollinger+Grohmann, Hochschule für Gestaltung Offenbach am Main, schneider+schumacher

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