Es schwelt und brodelt

Author
ch
Published on
Sep 7, 2011

Nicht nur der Euro ist unter Druck – wenn selbst in konservativen Publizisten Sympathie für die Linke erwacht, sind schwache Regierungen nur noch ein Symptom, aber nicht mehr Ursache einer grundsätzlichen Krise. Städte, Öffentlichkeit und neue Medien sind Schauplätze einer politischen Auseinandersetzung. Insofern haben die Ereignisse des zurückliegenden Sommers noch lange nicht aufgehört aktuell zu sein. Im Gegenteil.
 
Es ist schon wieder ruhiger geworden. Scheinbar. Die brennenden Häuser Englands sind zumindest hierzulande wieder aus den Nachrichten verschwunden, und auch die Brandanschläge in Berlin schienen nur eine makabre Form des Trittbrettfahrens gewesen zu sein. In diesem Sommer hatte es keiner nötig, Protestierende als Wutbürger zu beschimpfen. Doch die Ruhe trügt. Es ist eine Ruhe, die durch mediale Eigengesetzlichkeit vorgetäuscht wird. Nur für kurze Zeit, weil sie zahlreicher und intensiver als zuvor waren, waren Brandanschläge ein Thema der Nachrichten – sie werden nach wie vor verübt. Die Ereignisse dieses Sommers haben erneut deutlich gemacht, welche Konflikte in der Stadtgesellschaft schwelen, und mehr noch, wie sich die Formen der Kommunikation und der urbanen Praxis weiterentwickeln, und wie diese den Zusammenhang zwischen Stadtraum und Politik konstituieren und erkennen lassen. Es wäre deswegen fatal, nicht weiter danach zu fragen, was die Unruhen des Sommers bedeuten – deren Ursachen lassen sich nicht, wie es Sarkozy einst gerne mit den Tätern getan hätte, wegkärchern, sie verschwinden auch nicht, wenn ein Politiker wie Cameron mit markigen Worten davon spricht, die Täter sollten die ganze Härte des Gesetzes spüren.
 
Der Aufruhr ist typisch städtisch – und politisch
Die Proteste, so sehr sie sich im Einzelnen gegen Falsche richten und verwerflich sein mögen, sind, das sollte man zuerst festhalten, eine typisch städtische Praxis. Es geht in ihnen darum, etwas zugespitzt für ein Publikum sichtbar zu machen, was sonst unsichtbar bliebe. Die Stadt ist zu groß und zu komplex, als dass über direkte Ansprachen Anliegen formuliert werden und zuverlässig den Adressaten finden könnten – die Inszenierung ist deswegen Teil eines medialen Prozesses, der für die Stadt konstituierend ist und in dem die Stadt selbst Medium werden kann, wenn das, was in der Inszenierung sichtbar gemacht wird, auf einen überstädtischen Kontext zielt. So wird auch die Dynamik mancher Prozesse verständlich: Sie entsteht, weil es für einen Moment tatsächlich gelingt, Wahrnehmbarkeit überhaupt herzustellen; das wirkt ermutigend und erhöht wiederum die mediale Wirkung. Die englischen Unruhen waren darin Inszenierungen, und auch sie waren, gleich den sonst üblichen, den legalen oder den harmlosen Inszenierungen dadurch motiviert, dass sie, "Gegenwarten, in denen wir sind, als spürbare Gegenwarten erleben machen sollen." (Martin Seel) Das Publikum ist nämlich nicht nur die durch Medien informierte Öffentlichkeit – zu ihm gehört auch die eigene Szene. Innerhalb der eigenen Gruppe inszenieren sich deren Mitglieder voreinander, was inzwischen auch die Kommunikation über Blackberrys, Facebook oder Twitter einschließt. Flashmobs sind also eigentlich nicht neue Formen, in denen sich eine Gruppe füreinander und vor anderen inszeniert, sondern eine Veränderung einer bekannten Form städtischer Praxis, in der man sich gemeinsam vor anderen zur Erscheinung bringt. Wie gezielt damit aber politische Fragen, im Fall der englischen Unruhen die nach Verteilungs- und Chancengerechtigkeit gestellt werden, inwiefern sie gerechtfertigt auf eine Politik der Ausgrenzung reagieren, die soziale Spaltung fördern und räumlich fixieren, ist damit nicht beantwortet. Möglicherweise ist es falsch, diese Frage zu stellen – ob legal oder nicht, der englische Aufruhr ist eine Reaktion auf politische Entwicklungen, wie diffus das Bewusstsein dafür auch sein mag. (Siehe hierzu Berichte in der Frankfurter Rundschau und der Süddeutschen Zeitung).
 
Medien – integrale Elemente
Aber blicken wir noch einmal auf das Sommerloch, das in diesem Jahr solchen Namen nicht verdiente. Vor den Krawallen in den Städten kulminierte in England der Skandal um Rupert Murdoch. Er wurde ausgelöst, weil bekannt wurde, dass das Murdoch-Imperium auf vielfache Weise den Staat korrumpiert hatte, dass auf obszöne Weise Rechte Einzelner missachtet wurden. Der eigentliche Skandal ist allerdings, dass eine Klatschpresse sich zum Verteidiger der Demokratie, dem Anwalt der kleinen Leute hatte aufschwingen können und es damit einhergehend möglich wurde, dass aus Angst vor dem Boulevard Politiker vor Lobbyisten kapitulierten – etwas, wie Nicolas Richter in der SZ kommentierte, "Journalisten gerne den Politikern vorwerfen, es sei denn, sie sind selbst die Lobbyisten." Nun mag es Zufall sein, dass die Krawalle einsetzten, als der Akteur, der mehr als jeder andere geeignet gewesen wäre, populistischen Hardlinerparolen ein Sprachrohr zu liefern, geschwächt schien. Es zeigt sich immerhin so besonders deutlich, dass sich Informationskontrolle nicht mehr auf die eingespielten Praktiken verlassen kann. Ein System könnte am Ende sein – eines, in dem über die Auswahl dessen, was es zu wissen gibt, von denen entschieden wird, die sich damit ihre Macht sichern. Die Flut des auch in anderen Quellen zugänglichen Materials und der Möglichkeiten, es so zu verbreiten, dass es nicht mehr vernichtet werden kann, erzeugt nicht nur neue Auseinandersetzungen um Informationskontrolle und macht den Wunsch, sie auszuüben, sichtbar – Stichwort Wikileaks. Etablierte Medien sind nun auch aufgefordert, ihr Kapital an Vertrauen, das sie gegenüber anderen genießen, stets aus Neue zu legitimieren.
Hier stellt sich die Frage, ob der Umgang der Medien mit dem, was in englischen Städten geschah, richtig war. "Bilder aus dem Kriegsgebiet. Reality TV der Anarchie: London versinkt in Schutt und Asche und BBC News berichtet live" titelte die FAZ. Macht sich eine Branche zum Erfüllungsgehilfen von Brandschatzern, wenn sie berichtet und sich die Zeit der Reflexion für eine vielleicht nötige Auswahl oder eine mögliche Bewertung nicht mehr glaubt erlauben zu können? Diese Frage bleibt zeitgemäß – aber möglicherweise unter anderen Aspekten als noch vor wenigen Jahren. Auswahl und Zurückhaltung kann in einer bewussten Entscheidung eine Haltung zu Gesellschaft, kann Respekt vor ihr zum Ausdruck bringen, gerade weil nicht alle bestehenden Möglichkeiten genutzt werden. Es kann Teil der Bemühungen sein, um Vertrauen beim Publikum zu werben. Aber: So sehr – man denke zurück an die furchtbaren Ereignisse in Norwegen – man verachten mag, mit welcher Berechnung mediale Wirkung und grausame Tat bewusst ineinander verwoben werden können und diese Möglichkeit hier dem Täter ein entscheidendes Motiv erst lieferte, so wenig lässt sich dieses Potenzial noch eliminieren. Das Internet, die neuen Kommunikationsmedien bleiben. Wir müssen mit ihnen umgehen. Wir können nicht einem Kind gleich die Augen schließen und meinen, wir werden nicht gesehen.
 
In den Städten zeigt sich, wer es ernst meint
Kann es eine Konsequenz daraus geben? Hier lohnt nochmals der Blick nach Norwegen. Beeindruckend war, mit welcher Selbstverständlichkeit die Norweger sich dagegen wehrten, ihr Verständnis und ihre Praxis der offenen Gesellschaft aufzugeben, weil sie in diesem einen Fall deren Opfer geworden waren. Sie wissen, dass die Möglichkeit, die offene Gesellschaft zu missbrauchen, nicht gegen deren Qualitäten aufzuwiegen ist. Es ist wahrscheinlich – und inzwischen ahnt das auch eine Reihe konservativer Publizisten, die erkennen, dass die Linke doch recht haben könnte –, dass Proteste, nicht nur die gewalttätigen, in einem aus der Balance geratenen politischen Systems begründet liegen.
Und dass das politische Versagen nicht abstrakt ist: Nationale Politik wird nicht nur in den Städten via Inszenierungen kommentiert. Die Qualität der Politik wird sich in den Städten abbilden, sie wird hier überprüfbar sein – umgekehrt müssen Planer und Architekten darauf dringen, dass die Politik ihre Ziele lokal verankern muss, um glaubwürdig zu bleiben, denn auch dies wären, wie es Gewalt im schlechten ist, Inszenierungen im guten Sinne: Hier gäbe Politik zu sehen, was ihr Anliegen, was ihr Verständnis von Gesellschaft ist. In der Stadt und im konkreten räumlichen Umfeld des Alltags wird spürbar, ob politische Versprechen an Teilhabe, an Gerechtigkeit ernst gemeint oder leer sind. Sozialer Friede muss im Quartier, in der Stadt eingelöst werden können. Das braucht mutige Politiker, mutige Planer. Eine Politik, die müde und ängstlich agiert, die Entscheidungen lange im Verborgenen trifft, in der Hoffnung, ein vermeintlich ausgereiftes Projekt überzeuge dann, hilft nicht. Es helfen keine Bekenntnisse, die den Bürgern eine offenere Informationspolitik in Großprojekten versprechen, wenn sie ihnen nichts zu entscheiden geben. Die Stadt ist das Spielfeld des Öffentlichen. Es lassen sich nicht die Mittel der Inszenierung zensieren, aber es lässt sich sehr wohl beeinflussen, welches Spiel zur Aufführung gebracht wird. ch