Genossenschaftliche Wohnanlage wagnisART von bogevischs buero

Partizipation

Thomas Geuder
28. January 2017
Im Münchner Domagkpark ist die Wohnanlage wagnisART entstanden, bei der die Architekten eine neue Rolle eingenommen haben. (Bild: Michael Heinrich)

Projekt: Genossenschaftliche Wohnanlage wagnisART (München, DE) | Architektur: ARGE bogevischs buero architekten & stadtplaner GmbH und SHAG Schindler Hable Architekten GbR (München, DE) | Bauherrin: Wohnbaugenossenschaft wagnis eG (München, DE) | Hersteller: u.a. Sto, Keim, Rehau, FSB, Käuferle | vollständige Projekttafel siehe unten

Thomas Geuder: Herr Hofmann, das Projekt wagnisART im Münchner Domagkpark – ein ehemaliges, innerstädtisches Militärgelände im Norden Münchens – ist hinsichtlich seiner Entstehung ein eher ungewöhnliches Projekt: Die späteren Bewohner übernahmen hier quasi die Gestaltung nach gemeinsam festgelegten Regelwerken und stellten dadurch nicht zuletzt auch die Entwurfsautonomie der Architekten infrage. Entstanden ist ein Ort der Nachbarschaft mit neuen Wohnformen, über die es sich nachzudenken lohnt. War die Entwicklung des Projekts gemeinsam mit den Nutzern von Beginn an ein zentraler Punkt der Entwurfsidee, oder ist Ihnen als Architekt die Architektur am Ende doch ein wesentlicheres Anliegen?
Rainer Hofmann: Das ist eine sehr gute Frage, denn das eine lässt sich vom anderen nicht wirklich trennen. Für mich als ausgebildeten Architekten spielt das Endergebnis natürlich eine große Rolle. Aber speziell bei diesem Projekt ist das Formen einer neuen Gemeinschaft – also derer, die sich zusammen getan haben, um später auch zusammen zu wohnen – tatsächlich der Kern. Die Partizipation hat es mit sich gebracht, dass die Gemeinschaft schon sehr früh in der Entstehung des Projekts involviert war.

Auf Ihrer Homepage habe ich gelesen, dass bei bogevischs buero das Prozesshafte ein wichtiger Teil der Bürophilosophie ist. Das Projekt wagnisART muss ihnen grundsätzlich also sehr entgegen gekommen sein, oder?
Das Projekt hat uns tatsächlich sehr weit gebracht, weg von Bekanntem hin zu neuen Prozessen in der Entwicklung von Architektur. Abseits dieses Prozesshaften aber konnten auch einige technische Parameter verwirklicht werden, etwa das Passivhaus, der Null-Energie-Standard für alle öffentlichen Flächen oder neue Formen der Mobilität in Zusammenarbeit mit anderen Genossenschaften vor Ort. Aber der Kern und das Besondere ist wirklich der Entstehungsprozess, der – so denken wir – auch zu dieser besonderen Architektur geführt hat. Der Wohnungsbau lässt Planern heutzutage durch die vielen Standards normalerweise nicht viel Spielraum für Neues. So ist es uns als Architekturbüro hier gelungen, einmal einen ganz anderen Weg zu gehen. Über das Resultat sind wir sehr glücklich.

Die Gebäudegruppe besteht aus fünf freistehenden Baukörpern, die von den Bewohnern nach den fünf Erdteilen benannt wurden. (Bild: Michael Heinrich)

Wie schwierig war die Entwicklung innerhalb einer solchen Gemeinschaft? Vermutlich haben die späteren Bewohner bei den Diskussionen nicht selten nach Antworten suchen müssen, wo Sie als ausgebildeter Architekt die vielleicht schon längst hatten.
Vor einigen Jahren haben wir mit der Genossenschaft wagnis bereits ein Projekt verwirklicht, das Projekt «wagnis 3» in München Riem (Anm. d. Red.: Fertigstellung 2010). So wussten wir schon, was uns erwarten würde. Dennoch haben wir uns gerne wieder darauf eingelassen, nicht zuletzt weil wir unsere Erfahrungen von damals einfließen lassen konnten. So hatten wir damals noch versucht, unsere Architektur zu verteidigen. Und wir haben immer wieder Bereiche gesucht, in denen wir sozusagen unsere Autonomie aufgegeben haben. Das führte schlussendlich dazu, dass der ein oder andere Punkt nicht ganz so scharf und konsequent umgesetzt wurde, wie wir es uns eigentlich gedacht hatten. Bei wagnisART wussten wir also, dass wir von Beginn an anders heran gehen und unsere Rolle neu definieren mussten. Vor diesem Hintergrund war der Planungsprozess dann gar nicht mehr so konfliktbelastet, wie man vielleicht vermuten würde. Im Gegenteil: Es sind schöne und bereichernde Diskussionen entstanden. Der Gesamtaufwand bei einer solchen Arbeit ist natürlich immer höher als beim geradlinigen Arbeiten.

Der Architekt ist bei diesem Vorgehen vermutlich auch eine Art Vermittler zwischen den verschiedenen Kräften innerhalb der Gemeinschaft, oder?
Er nimmt immer wieder eine andere Rolle ein, ähnlich einer Erweiterung des Tätigkeitsfelds. Architekten müssen sich seit vielen Jahren immer stärker mit Projektsteuerern auseinandersetzen, es gibt GÜs und GUs, nur noch selten darf man die Ausschreibung machen. Bei Projekten wie diesem aber kommt auf den Architekten eine ganz neue Rolle zu, in der Schnittstelle zwischen dem Planen und dem Verwirklichen. In meinen Augen ist das eine große Bereicherung und bietet auch ein sehr großes Potenzial. Ich glaube auch, dass wir uns dieser neuen Form der Auseinandersetzung mit den späteren Nutzern stellen müssen. Im Städtebau zum Beispiel wird die Partizipation schon länger diskutiert. Kaum ein Radweg wird verwirklicht, ohne dass die Bürger beteiligt werden. Die wenigsten dieser Partizipationen aber führen wohl zu einer neuen Art der Stadtplanung. Bei wagnisART, denke ich, sind wir einen Weg gegantgen, der zeigt, welches Potenzial in einem Partizipationsprozess liegen kann. Mich fasziniert, dass dabei auch eine andere Form der Architektur entstehen kann, die Qualitäten hat und die wir als Architekten so nicht vorsehen konnten.

Der Architekt kann bei dieser Form der Planung also noch etwas lernen?
Richtig. Für uns war das auch ein Lernprozess.

Nach gemeinsam festgelegten Regelwerken wurden von den zukünftigen Bewohnern gemeinsam mit den Architekten Gestaltungselemente entwickelt. (Bild: Udo Schindler)

Lässt sich aus derartigen Projekten schlussfolgern, dass nicht unbedingt kostengünstig sinnvoll ist, sondern eher das Entwickeln für und mit dem Menschen?
Bei wagnisART war das uns zur Verfügung stehende Budget tatsächlich etwas höher als die üblichen Mindestbudgets im Wohnungsbau, etwa 10 bis 15 Prozent mehr als der Standard des sozialen Wohnungsbaus. Wir haben sehr viele einfache Materialien verwendet, haben oft niedrige Standards bei Oberflächen. Für all das hat sich die Genossenschaft bewusst entschieden. Denn von Anfang an stand fest, dass ein Mehrwert durch einen sehr großen Anteil an Gemeinschaftsflächen wie die Dachterrassen oder die Brücken entstehen sollte, die natürlich mitfinanziert werden mussten. Die Genossenschaft hatte schon zu Beginn des Projekts beschlossen, der Gemeinschaft einen bestimmten Wert zuzuschreiben und entsprechend das Budget etwas höher anzusetzen.

Was ist am Projekt wagnisART letztendlich typisch für begevischs buero?
«Typisch» für bogevischs buero ist schwierig, weil wir uns nicht als Büro verstehen, das eine bestimmte Gestaltungsmaxime hat. Typisch an dem Projekt ist sicherlich, dass wir einen sehr großen Wert legen auf das Entstehen von Flächen, auf denen Begegnung möglich ist. Wir haben damals begonnen mit Studentenwohnungen, machen heute noch immer zum großen Teil Wohnungsbau oder geförderte Projekte im Bereich sozialer Infrastruktur. Dort sind die tatsächlichen Nutzflächen sehr häufig ziemlich vordefiniert. Im sozialen Wohnungsbau zum Beispiel hat eine Vier-Zimmer-Wohnung maximal 90 m², Tendenz sinkend. Da bleibt nicht viel räumlicher Spielraum. Man muss sich also überlegen, wie Menschen, die sich in ihren Wohnungen ja auch sehr stark individualisieren, in einem Projekt verortet sind, also zum Beispiel wie sie zur Wohnung gelangen und wie Begegnung im Projekt und im Übergang zum öffentlichen Raum stattfindet. Unserer Ansicht nach haben diese Punkte eine sehr große Bedeutung, weil die Möglichkeit der informellen Begegnung auch ein Grund dafür ist, sich in einem Gebäude stärker zu verwurzeln. Bei wagnisART spüren wir das sehr gut an dem unglaublich großen Interesse an dem Projekt – ich habe bereits über 40 Führungen durch das Gebäude gemacht, für ganz unterschiedliche Menschen, nicht nur Architekten. Und die einzige Kritik, die mir zu Ohren gekommen ist, ist die, dass man sehr langsam sei in diesem Gebäude. Sprich: Wenn man etwa den Müll weg bringt, braucht man dafür eine Stunde, weil man ständig Leute trifft. Genau genommen ist das eine sehr schöne Qualität, die ich gerne höre. Die Gemeinschaftsflächen laden eben dazu ein, ins Gespräch zu kommen.

Lässt sich also subsumieren, dass der Faktor «Mensch » in der Arbeit von bogevischs buero eine entscheidende Rolle spielt?
Ich hoffe, dass das so wahrgenommen wird. Der Mensch ist ein wichtiger Teil der Rolle, in der wir uns selbst sehen.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Hofmann.

Für die Architekten ging es beim Planungsprozess auch darum, die Gedanken der Gemeinschaft in baubare Architektur zu übersetzen. (Bild: Udo Schindler)
Jeder der fünf Baukörper besitzt einen zentralen Erschließungskern, der von oben natürlich beleuchtet wird. (Bild: Julia Knop)
Neben herkömmlichen Wohnungen wurden auch neue Wohnformen wie die «Clusterwohnungen» realisiert, bei denen sich bis zu acht kleine Appartements um gemeinschaftliche Bereiche ordnen. (Bild: Julia Knop)
Schwarzplan (Quelle: bogevischs buero)
Lageplan (Quelle: bogevischs buero)
Grundriss 4. Obergeschoss (Quelle: bogevischs buero)
Grundriss 3. Obergeschoss (Quelle: bogevischs buero)
Grundriss Erdgeschoss (Quelle: bogevischs buero)

Projekt
Genossenschaftliche Wohnanlage wagnisART
München, DE

Architektur
ARGE
bogevischs buero architekten & stadtplaner GmbH und
SHAG Schindler Hable Architekten GbR
München, DE

Hersteller
WDVS Fassade: Sto
Fassadenfarbe: Keim
Kunststofffenster: Rehau
Beschläge: FSB
Garagentor: Käuferle

Bauherrin
Wohnbaugenossenschaft wagnis eG
Projektleitung: Elisabeth Hollerbach
München, DE

Landschaftsarchitektur
ARGE
bauchplan ).( landschaftsarchitekten und stadtplaner
München, DE und
Auböck + Kárász Landscape Architects
Wien, AT

HLS/E
Ingenieurbüro EST EnergieSystemTechnik GmbH
Miesbach, DE

Statik
Henke Rapolder Frühe Ingenieurgesellschaft mbH
München, DE

Anzahl Wohneinheiten
138

Flächen
Wohnfläche: 9.591 m²
BGF: 20.275 m²
Gemeinschaftsfläche: 675 m²

Fertigstellung
2016

Fotografie
Michael Heinrich
Julia Knop


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