Die Zeichnungen Carl Theodor Reiffensteins zeigen die Geschichte Frankfurts

Manuel Pestalozzi
22. November 2022
Der passende Augpunkt, die richtige Stimmung –man denkt bei „Blick aus den oberen Fenstern des Goethehauses nach Norden, rekonstruierter Zustand um 1749–1755“ von 1858 an eine Projektvision, blickt aber auf eine damals bereits verschwundene Realität. (Foto: Historisches Museum Frankfurt)

Carl Theodor Reiffenstein verbrachte fast sein ganzes Leben in Frankfurt am Main. Er begann an der Städelschule eine Architekturausbildung, wechselte dort dann aber ins Fach der Malerei. Bekannt ist er als Architektur- und Landschaftsmaler der Romantik. Seine große Aufmerksamkeit galt der Heimatstadt und insbesondere deren bestehender Architektur. Zwischen 1836 und 1893 schuf er rund 2000 Zeichnungen und Aquarelle und füllte fast 2400 Seiten mit handschriftlichen Notizen, in denen er die Geschichte und den sich wandelnden Zustand der Bauwerke festhielt. Oft war Dringlichkeit geboten; zu seinen Lebzeiten veränderte sich das Stadtbild von Frankfurt in einer zuvor nicht da gewesenen Geschwindigkeit. Mit der Industrialisierung wuchs die Stadtbevölkerung und mit ihr die Stadt. Zwischen 1804 und 1812 wurden die Stadtbefestigungen abgetragen, was die Tür zur Erweiterung der Stadt in das Umland öffnete. Eine bis dahin ungekannte Bauspekulation war die Folge. Ganze Viertel im Stadtzentrum verschwanden, neue Außenbezirke wuchsen in die Landschaft. Carl Theodor Reiffenstein leistete somit Erinnerungsarbeit. Er tat dies mit großer Präzision und gleichzeitig mit spürbarem Einfühlungsvermögen. So schuf er seine „Sammlung Frankfurter Ansichten“. 1877 verkaufte sie der kinderlos verheiratete Künstler an die Stadt gegen eine Leibrente. Sie bildet Teil des Gründungsbestandes des Historischen Museums.

Der „Entwurf zu einer Stadtansicht aus der Vogelschau, Blick nach Süden“ von Mai 1852 kombiniert Abstraktion und Dramatik. (Foto: Historisches Museum Frankfurt)

Die Ausstellung „Alles verschwindet! Carl Theodor Reiffenstein (1820 – 1893) – Bildchronist des alten Frankfurt“ befasst sich mit der Wehmut, welche die Vergänglichkeit auslöst und die auch auf das Gemüt Reiffensteins gedrückt haben mag. Für Architekt*innen ist die Ausstellung aber darüber hinaus von Interesse, weil dieser Künstler ein unvergleichliches Talent besaß, Bausubstanz ins richtige Licht zu rücken. Einerseits besticht bei den Zeichnungen und Aquarellen die oft fotorealistische Präzision von Details, gleichzeitig aber auch das große Talent für Abstraktion dort, wo es der beabsichtigten Botschaft dient. Der Künstler erweist sich auch als hochbegabter Szenograph, manche seiner Werke erinnern an Bühnenbilder oder eher schon an Filmstills. Oft stellte Reiffenstein gezielt Stimmungsbilder her: Straßenräume in der Dämmerung, bei denen die Dächer und obersten Geschosse schon von der Sonne beschienen werden, dunkle Tordurchfahrten, hinter denen Fassaden in der Sonne glänzen, lange Schatten, die sich über Platzflächen ausdehnen. Man denkt an Gebrauchsgrafik im besten Sinne und erkennt hier auch die eigentlichen kulturhistorischen Wurzeln der heutigen Architekturvisualisierungen, die vielleicht etwas zu wenig hinterfragt werden.

Die Ausstellung dauert bis zum 12. März 2023. Das Historische Museum Frankfurt hat 2063 Objekte von Carl Theodor Reiffenstein in ihre Online-Sammlung aufgenommen, die sich auch aus der Ferne begutachten lässt.

Licht, Schatten, Reflektionen und Oberflächen werden bei der Darstellung „Rapunzelgäßchen Nr. 6“ von 1874 in Szene gesetzt. (Foto: Historisches Museum Frankfurt)

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