Grafton Architects im Interview

Das Gewöhnliche transformieren

John Hill
18. May 2022
Shelley McNamara und Yvonne Farrell am EUmies Awards Day (Foto: Anna Mas)
Sie kommen gerade von La Borda (dem genossenschaftlichen Wohnprojekt in Barcelona, das von Lacol entworfen wurde und mit dem Emerging Architecture ausgezeichnet wurde). Wie hat es Ihnen gefallen?


Yvonne Farrell (YF): Es ist fantastisch, voller Leben, inspirierend. Wenn wir an andere Orte reisen, suchen wir nach Ideen, weil wir in unserem Land eine Wohnungskrise haben. Die Sicht von Lacol darauf, wie das Leben sein kann, wie sie die Menschen und die Politik verändern, wie sie Finanzmittel erhalten, wie sie dann in Bezug auf die Verwaltung arbeiten, wie sie es einrichten, ist sehr interessant. Es gibt, wenn man so will, eine radikale politische Verankerung, die, wie ich glaube, in diesem Land Tradition hat: Wir befinden uns in einer Drei-Millionen-Stadt, in der ein Nein als Antwort nicht akzeptiert wird. Und es zeigt, dass die Energie, die die beteiligten Architekten aufbringen mussten, um das Projekt zu realisieren, phänomenal ist. Es sind wahrscheinlich keine Kosten im finanziellen Sinne, aber das ist es, was ein Projekt wie dieses zusammenhält. Es ist also eine Idee, von der wir hoffen, dass wir von ihr lernen können, denn sie ist voller Leben.

Shelley McNamara (SM): Zwar lag das Budget unter tausend Euro pro Quadratmeter, aber man kann in jedem Detail sehen, dass sich die Architekten Gedanken gemacht haben. Auch wenn es sehr rudimentär ist: sie bauen sparsam, aber nicht billig. Entstanden ist ein schöner, wirklich gut durchdachter Ort zum Leben. Man kann das Können dieser Architekten in ihrem ersten Gebäude sehen: Es ist frisch, es ist liebevoll, sie achten auf die Details. An manchen Stellen ist es rau, aber nicht dort, wo es wichtig ist. Und darin steckt die Energie, die sie für diese Art des Wohnens aufbringen. In der Genossenschaft gibt es mehrere Leute, die sich um verschiedene Themen kümmern: die Architektur, die Mechanik, die rechtlichen Angelegenheiten, die Instandhaltung. Und dann gibt es noch die „Konvivialitätsgruppe“ – das sind Leute, die sich um Streitigkeiten kümmern. Die Tatsache, dass sie es so nennen, finde ich fantastisch, denn sie sind als Gruppe für das bessere Zusammenleben zuständig.
 

Genossenschaftswohnen La Borda, Lacol Architekten, Barcelona. (Foto © Institut Municipal de l'Habitatge i Rehabilitació de Barcelona)


YF: Der Name „La Borda“ hat mit dem Gebiet [La Bordeta] zu tun, aber er kommt auch von diesen Hütten in den Alpen, in denen man bleiben kann und die man sauber hinterlassen muss, bevor man weiterzieht. Ich denke, dass das philosophisch gesehen das wirklich Erstaunliche an diesem Ort ist. Sie schaffen eine Verbindung in städtebaulicher Hinsicht, nicht nur in baulicher. Sie haben einen bestehenden Weg über die Straße verbunden, der unter dem Gebäude hindurch in das Innere des Blocks führt, der künftig ein Park sein wird.

SM: Und sie lassen ihn offen, er ist nicht defensiv. Sie vertrauen darauf, dass ihre eigene Gemeinde das respektiert, was dort entstehen wird. Die Städte sind heute sehr defensiv, es gibt eine Menge Angst in den Städten. In Dublin gibt es viel Armut und viele Drogen, und die Menschen sind ängstlich. Aber hier öffnen sie ihr eigenes Gebäude, damit sie es von der Straße oder vom Park aus betreten können.
Das erinnert mich daran, dass wir die Arbeit von Vilanova Artigas und anderen Architekten in Brasilien immer sehr geschätzt haben. Sie haben die Architekturschule in São Paulo (Fakultät für Architektur und Urbanismus, Universität von São Paulo, FAU-USP) gegründet. Wir haben die Arbeit von Paulo Mendes da Rocha für die Architekturbiennale in Venedig 2012 studiert und ihn in São Paulo getroffen. Als wir ihm sagten, dass wir am nächsten Tag die Architekturschule besuchen würden, sagte er: „Remember, no door. Keine Tür.“ Zu Hause habe ich nachgeschaut, zu welcher Zeit diese Schule gebaut wurde. Damals gab es radikalen Widerstand gegen die repressive Regierung. Es ist außergewöhnlich, wenn Architekten so etwas tun, weil sie an ihr Volk glauben. Sie glauben an die Menschlichkeit und, wie ich annehme, an die Kultivierung der positiven Seiten der Menschheit.
 

Town House – Kingston University, Grafton Architects. (Foto © Ed Reeve)
Bei meinem Besuch im La Borda fand ich es interessant, dass das Gebäude sehr praxisorientiert ist, da die Bewohner mit den klimatischen Aspekten des Gebäudes zusammenarbeiten müssen, nicht nur mit den sozialen. Wenn es ein sonniger Sommertag ist, müssen sie die Jalousien herunterlassen und die Fenster und Türen öffnen. Im Winter tun sie das Gegenteil, um die Betonplatten durch die Sonne aufwärmen zu lassen und nachts die Strahlungswärme zu nutzen. Aber wenn ein Bewohner nicht das tut, was nötig ist, merken das alle und leiden darunter.


YF: Die Menschen müssen hier Nachhaltigkeit tatsächlich in ihren eigenen Alltag integrieren. Es ist nicht so, dass man in ein Gebäude geht und es für einen alle Problem einfach löst. Als wir heute Morgen dort waren, fragten wir nach den extremen Temperaturen, denn es wird manchmal bis zu 40 Grad Celsius heiß, und die Luftfeuchtigkeit ist etwa eine Woche im Jahr sehr hoch. Es kann sehr, sehr ungemütlich werden, sagten sie. Aber das macht einem klar, dass die globale Erwärmung eine Realität ist und dass man die Lüftungsschlitze öffnen muss, dass man sie haben muss. Und hier haben wir das Privileg, im Barcelona-Pavillon zu sitzen, und es weht eine Brise vom Meer her, und die Vorhänge hinter uns wehen sanft im Wind, und es ist sehr angenehm, weil wir im Schatten sitzen. Wir haben gestern darüber gesprochen, dass Architektur eine gebaute Haut ist. Sie ist wirklich die äußere Kruste dessen, was wir als Geschöpfe sind.
 

Als die Architekten über die hohen Decken sprachen – die so gemacht sind, dass die heiße Luft über dem Kopf ist und durch hohe Fenster und Oberlichter entweicht –, dachte ich an ältere Häuser in den Vereinigten Staaten, vor der Zeit der Klimaanlagen, die aus demselben Grund hohe Räume hatten. Es scheint, als ob man – so hoffe ich – mehr und mehr von solchen Gebäuden lernen kann, im Gegensatz zu ikonischen zeitgenössischen Projekten. Sie haben die Modelle von Mendes de Rocha auf der Biennale erwähnt, und in Ihrem gestrigen Vortrag haben Sie Dias von viel älteren, traditionellen Gebäuden als Vorbilder für das Stadthaus gezeigt. Wie arbeiten Sie in Ihrem Büro mit Präzedenzfällen, wie bestimmen Sie, welche davon für Kingston oder ein anderes Projekt geeignet sind?


SM: Unser Kunde hat für diesen Preis ein Video mit einigen unserer sehr frühen Vorschläge für Kingston zusammengestellt, und es war schön, sie zu sehen, weil er Dinge ausgewählt hat, die wir nicht ausgewählt haben. Und eines davon war ein großes Bild von dem, was wir unsere „Ideenwand“ nennen. Es ist ein Risiko, so etwas einem Kunden zu zeigen, denn es ist verwirrend – es ist einfach ein bisschen von allem. Und die Art und Weise, wie wir arbeiten, besteht wohl darin, die Leute aufzufordern, Ideen anzubieten, was ihrer Meinung nach relevant sein könnte – und das kann von der ältesten, rudimentärsten Referenz bis hin zur zeitgenössischsten, lächerlichsten oder erhabensten reichen. Ich fand es interessant, mir gestern seit langer Zeit mal wieder die Ideenwand für Kingston anzuschauen, auf ihr sind viele Fragmente gesammelt. Wir gehen nicht völlig rational an ein Projekt heran; es ist Intuition und wir versuchen herauszufinden, wie sich das Gebäude anfühlen soll und was für ein Ort es sein soll. Es geht also nicht nur um die Organisation.

In Lima zum Beispiel gefiel uns die Idee sehr gut, eine Art Fußballstadion für eine Universität zu bauen. Wir mussten eine vertikale Universität (UTEC – Universidad de Ingeneria Y Technologia) bauen und begannen, über eine Arena für das Lernen nachzudenken. Das brach wirklich mit der Typologie und befreite uns zugleich. Und Paulo Mendes da Rocha kam auch ins Spiel, weil wir uns sein Fußballstadion ansahen. Es ist also zunächst sehr breit gefächert und offen, und dann müssen wir versuchen, dem Ganzen eine Form zu geben und ein Konstrukt finden, das diese sehr unterschiedlichen Ideen und Möglichkeiten zusammenbringt. 
Ich denke an den großen amerikanischen Dokumentarfilmer Frederick Wiseman, der einen Film über die New York Public Library gemacht hat. Darüber sprachen wir einmal mit ihm, als wir an einer Bibliothek arbeiteten. Er erklärte, dass er sich nie auf den Ort vorbereitet oder recherchiert, bevor er ihn besucht, er jedoch Ewigkeiten mit dem Schnitt verbringt. Und wir sind ein bisschen wie er. Ich meine, wir recherchieren Dinge, aber wir sind auch offen für Dinge, die von außen kommen. Und wir interessieren uns mehr und mehr für die Dinge, von denen Sie sprechen, wie historisch gesunder Menschenverstand und landestypische Gebäude, bei denen die Beseitigung oder Reduzierung von Technologie die halbe Miete ist.
 

Town House – Kingston University, Grafton Architects. (Foto © Ed Reeve)


YF: Für uns ist Architektur ein Prozess der Übersetzung. Es gibt ein wunderbares Stück von Brian Friel mit dem Titel Translations, das im 18. Jahrhundert spielt (er war ein Dramatiker des 20. Jahrhunderts). In dieser Zeit kamen britische Landvermesser nach Irland, um das Land zu kartieren. Sie übernahmen für Orte den Klang der irischen Sprache phonetisch, aber dabei verloren die Bezeichnungen ihre Bedeutung. Denn der Klang steht nicht dafür, was die Ortsnamen eigentlich beschreiben. Es geht also um den Verlust der Bedeutung. Und es geht auch darum, wie man eine Bedeutung findet. Und ich denke, dass wir uns als Architektinnen dessen sehr bewusst sind, dass wir Bedürfnisse in den Raum übersetzen.

Es geht darum, ein Bedürfnis zu befriedigen, nämlich ein Gebäude zu bauen oder einfach nur den Regen abzuhalten, und dann zu versuchen, diese anderen Zutaten zu finden. Das ist etwas, worüber wir gern sprechen: das Gewöhnliche zu transformieren. Wie bei dem schönen Projekt, das wir heute Morgen besichtigt haben. Es handelt sich nicht um eine raffinierte Ästhetik, es geht vielmehr um das Leben. Es ist eine Art diszipliniertes Chaos, das wirklich sehr schön ist, als wäre man in einem wirklich verrückten Theaterstück. Es ist keine Architektur, die versucht, dich zu zähmen. Das ist etwas, was wir vielleicht für das Projekt in Kingston beschreiben können, wo es wirklich darum ging, einen Schritt zurückzutreten und etwas zu schaffen, in dem Dinge passieren können, im Gegensatz zu der Art von Architektur, die dominiert: „Du bist in einem Stück Architektur.“
 

UTEC – Universidad de Ingeneria Y Technologia, Grafton Architects. (Foto: Iwan Baan)
Gestern bei der Preisverleihung sagte Yvonne „Zeichnungen beschreiben keine Gefühle“ und erklärte einige Aspekte Ihrer Gebäude. Die Jury beschrieb zudem, dass es bei der Besichtigung des Stadthauses sofort „klick“ machte – sie wussten sofort, dass dies der Gewinner war. Ich frage mich, ob es bei der Umsetzung Ihrer Entwürfe in Gebäude viele Überraschungen für Sie gibt?


YF: Als wir unter der schrägen Aula in Bocconi (Universita Luigi Bocconi, Mailand) standen – fünf Meter unter der Erde mit einem acht Meter hohen Fenster – schauten wir uns an, als könnten wir etwas spüren, von dem wir nicht wussten, dass es kommen würde. Ich denke, wenn man nach Kingston fährt, ist eines der Dinge, die ich feststelle, dass man alle Abschnitte kennt, aber wenn man hineingeht, ist es, als ob die Vertikalen und Horizontalen irgendwie pulsieren.

SM: Es ist eigentlich nicht dramatisch, sondern eher sehr ruhig. Als wir in Lima waren und das Gerüst abgebaut wurde, ginge Yvonne und ich lange von Tür zu Tür und wir wollten nicht, dass irgendwelche Bauarbeiter oder irgendjemand auf uns zukommt und mit uns redet; wir wollten einfach nur da sein und durch diesen Raum gehen. Wenn man sich dem Gebäude nähert, sieht es von außen durchlässig aus, drinnen aber sieht man den Himmel nicht. Man hat also das Gefühl, dass man sich in einem soliden Gebäude befindet. Das hat mich wirklich überrascht.

In Kingston ist es die Ruhe, die es ausstrahlt. Wenn man hineingeht und herumläuft, sieht man Studenten, die herumsitzen; es ist irgendwie zwanglos. Ich war wirklich begeistert davon, wie die Studenten das Gebäude als ihr Eigentum betrachtet haben; sie haben jede Ecke in Beschlag genommen. Es ist voll, wenn es geöffnet ist und sie nicht im Unterricht sind. Die Art und Weise, wie es zum Leben und zur Nutzung einlud ... es war nicht vorgeschrieben, und das ist es, was ich mit Zurückhaltung meinte. Das war eine echte Lektion für uns, nämlich zu versuchen, zu sehen, was dieses Programm für den Kunden sein kann. Wie kann es gedeihen? Wie kann etwas an diesem Ort wachsen?
 

Anthony Timberlands Center for Design and Materials Innovation in Fayetteville, Arkansas. (Foto: © Fay Jones School of Architecture and Design, University of Arkansas / Grafton Architects)


YF: Es gibt Räume, die ruhiger sind, abseits der ausgetretenen Pfade, sagen wir mal, und es gibt Studenten, die früh kommen und dort sein wollen. Manche Räume sind ruhiger und tiefer, andere sind größer und kleiner und beziehen sich auf etwas anderes. Es gibt ein Foto, das wir gestern nicht verwendet haben, von einer einzelnen Studentin, die auf einem der Balkone draußen sitzt; sie sitzt zwischen Stadt und Universität und konzentriert sich. Ich weiß nicht, wo sie wohnt; sie könnte irgendwo in einem Souterrain wohnen und in dieses Universitätsgebäude gekommen sein, um auf diesem Nest zwischen Hampton Court in der Ferne und ihrem Raum zu sitzen und ihn zu beanspruchen. Menschen können den Raum auf unterschiedliche Weise beanspruchen.

Wir bauen nun unser erstes Gebäude in den Vereinigten Staaten, in Fayetteville, Arkansas. Es wird ganz aus Holz sein. Wir interessieren uns für den Klang und Geruch dieses Gebäudes. Für uns ist es ein Experiment (wir arbeiten mit einer Gruppe namens modus studio in Arkansas zusammen), ein Gebäude zu bauen, das ein Instrument ist; es ist wie ein riesiges Musikinstrument, in dem sich Studenten aufhalten werden. In Lima gibt es diese 40 Meter hohen Klippen, die bis zum Meer reichen, und wir haben diese Klippen metaphorisch als eine Art gemeißelte Universität betrachtet, in die man hineingeht; es fühlt sich an wie das Innere eines Berges. Aber in Arkansas sind wir gespannt auf diese Art von Dach, das dieses Gebäude zusammenhält, das seinen eigenen Charakter haben wird.
 

Ich freue mich schon darauf – und darauf, es persönlich zu sehen! Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mit mir zu sprechen.

World-Architects ist strategischer Partner des Preises der Europäischen Union für zeitgenössische Architektur 2022 – Mies van der Rohe Award.

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