Gebäude als Organismus betrachtet
Sauerbruch Hutton
8. March 2023
Die Fassade ist als räumliche Holzkonstruktion konzipiert (Foto: Jan Bitter)
In Genf haben Sauerbruch Hutton für die Hilfsorganisation Ärzte Ohne Grenzen einen neuen Hauptsitz gebaut. Mit Julia Knaak haben wir uns zum Projekt und zu dessen Entstehungsgeschichte ausgetauscht.
Worin liegt das Besondere an dieser Bauaufgabe?Die wachsende Bedeutung von Médecins Sans Frontières (MSF), der internationalen Organisation für medizinische Nothilfe, hat den Bau des neuen Hauptsitzes in Genf notwendig gemacht. Er befindet sich in unmittelbarer Nähe der Vereinten Nationen und anderer internationaler Organisationen in Genf.
Die Abmessungen der Innenräume sind an der Fassade ablesbar und von außen sichtbar. Wie ein riesiges Puzzle bilden sie ein klar definiertes Bauvolumen, analog zur Organisation als solcher, die sich aus Menschen zusammensetzt, die ein gemeinsames Ziel verfolgen.
Begrünte Loggien und Balkone sorgen für ein gutes Mikroklima (Foto: Jan Bitter)
Welche Inspirationen liegen diesem Projekt zugrunde?Die inneren Strukturen von Médecins Sans Frontières selbst dienten als Inspiration. Ein dermaßen fluider, rund um die Uhr tätiger Organismus braucht eine anpassungsfähige Gebäudestruktur, die „atmen“ kann und alle Formen der Arbeit in unterschiedlichsten Konstellationen unterstützt. Flexible Geschossebenen bieten Platz für Räume mit unterschiedlichen Proportionen, die das Arbeiten in großen, mittleren und kleinen Gruppen begünstigen. Zwischen Einzel- und Gruppenbüros befinden sich Gemeinschaftsbereiche für Kommunikation und Interaktion. Eine großzügige, offene Treppe verläuft durch das gesamte Gebäude und hebt die starre Trennung zwischen den Etagen auf.
Die Agora ist der zentrale Treffpunkt des Gebäudes (Foto: Jan Bitter)
Wie reagiert der Entwurf auf den Ort?Die transparente, netzwerkartige Struktur des Gebäudes bietet einen geeigneten Rahmen in Analogie zur Arbeitsweise der Organisation. Das Erdgeschoss ist in einen halböffentlichen und einen privaten Bereich unterteilt. Der erste umfasst die durchgesteckte Eingangshalle mit Ausstellungen, das Restaurant und den Konferenzraum, die zur Belebung des öffentlichen Platzes vor dem Gebäude beitragen. Der Bereich von MSF umfasst insbesondere die Agora, einen zentralen Raum für den internen Austausch der Teams. Da die Funktion der Agora wandelbar ist, wird sie auch als Bibliothek und als Empfangsbereich für die Mitarbeiter von MSF genutzt, die einen Einsatz vorbereiten oder von dort zurückkehren.
Das Projekt bietet mehrere begrünte Terrassenbereiche: Über dem eingeschossigen Restaurantvolumen befindet sich eine große Terrasse, auf deren Grundfläche bei zukünftigem Bedarf eine bis zu siebengeschossige Erweiterung realisiert werden kann. In der 7. Etage ist eine kompakte Terrasse für den Außenbereich der Cafeteria in das Gebäudevolumen eingeschnitten. Von hier aus wird das extensiv begrünte Dach mit der MSF Bar erschlossen, die ein Panorama über die umliegenden Gebirge und den Genfer See bietet.
Ein architektonischer Spaziergang: über die Etagen versetzte großzügige Treppenräume ermöglichen informelle Treffen und Austausch (Foto: Jan Bitter)
Inwiefern haben Bauherrschaft, Auftraggeber oder die späteren NutzerInnen den Entwurf beeinflusst?Dem Bauherrn war es wichtig, ein charakteristisches Gebäude und adaptives Arbeitsinstrument zu schaffen, das die Organisation und ihre spezielle Arbeitsweise reflektiert. Außerdem sollten möglichst viele Mitarbeiter in den Planungsprozess eingebunden werden, damit sie sich frühzeitig mit dem neuen Projekt identifizieren können. So wurden diverse Arbeitsgruppen gebildet, die die verschiedenen Themen bearbeitet haben, die dann in den dynamischen architektonischen Prozess eingeflossen sind.
Ein architektonischer Spaziergang: über die Etagen versetzte großzügige Treppenräume ermöglichen informelle Treffen und Austausch (Foto: Jan Bitter)
Welche speziellen Produkte oder Materialien haben zum Erfolg des vollendeten Bauwerks beigetragen?Die Struktur des Gebäudes ist mit Geschossdecken und Stützen aus Beton und einer optimierten Anzahl technischer Kerne konzipiert, um maximale Flexibilität zu gewähren. Die Fassade mit den charakteristischen Holzrahmen ist aus Weißtanne und einer thermisch hochwertigen Gebäudehülle mit außenliegendem textilem Sonnenschutz gestaltet, und wird damit den zentralen Themen Transparenz und Nachhaltigkeit gerecht. Die begrünte Fassade mit ihren großzügig bepflanzten Balkonen wird zu einer Schall- und CO2 absorbierenden Fläche, die die pflanzliche Biodiversität bewahrt und das städtische Mikroklima verbessert.
Lageplan (Zeichnung: Sauerbruch Hutton)
Grundriss 2. Obergeschoss (Zeichnung: Sauerbruch Hutton)
Grundriss 6. Obergeschoss (Zeichnung: Sauerbruch Hutton)
Grundriss 7. Obergeschoss (Zeichnung: Sauerbruch Hutton)
Schnitt (Zeichnung: Sauerbruch Hutton)
Das Konzept der versetzten Atrien erlaubt variierende Blickverbindungen zwischen Innen und Außen sowie zwischen den Einheiten (Zeichnung: Sauerbruch Hutton)
2022
Route de Ferney 140
1202 Genf
Nutzung
Operational Center / Schweizer Hauptsitz mit Büros, Konferenz- und Besprechungsräumen, Krisenzentrum, Restaurant, Eingangshalle mit Ausstellungsbereich
Auftragsart
Wettbewerb
Bauherrschaft
Médecins sans Frontières
Architektur
Sauerbruch Hutton, Berlin
mit Fabio Fossati Architectes, Chêne-Bougeries
Projektleitung: Julia Knaak
Projektteam: Marc Broquetas, Andrea Frensch, Fotios Gkrilias, Philipp Hesse, Natalie Hipp, Guillaume Larouche, Florent Le Corre, Charlotte Moulis, Moojin Park, Anna Luise Pfau, María Silvestre Martinez, Qihang Yang, Alix Zingraff
Fachplaner
Tragwerksplanung: Werner Sobek Frankfurt GmbH & Co. KG, Frankfurt am Main (Konzept)
SBING SA, Carouge
Außenanlagen: Agence TER, Paris
TGA: Wintsch K. & Cie SA, Bernex | Rhône-Electra Engineering SA, Genf | Tapernoux SA, Bernex
Fassadenplanung: BCS SA, Romanel-sur-Morges
Akustik: Archac Architecture & Acoustique SA, Genf
Brandschutz: Archisecu, Genf
Küchenplanung: Schéma-TEC SA, Genf
Ausführende Firmen
Erdarbeiten: Gestrag SA
Gerüstbau: Roth Echaffaudages SA
Rohbau: Maulini SA
Fassade/Abdichtungs- und Dämmarbeiten/Pflanztröge: Hevron SA
Elektroanlagen: Sedelec SA
Photovoltaik: Romande Energie
Heizung- Lüftungs- und Kälteanlagen – Groupe Alvazzi SA
Gebäudesteuerung: Siemens
Sanitäranlagen: Troger SA
Sprinklerung Parkgeschoss: Viansone
Aufzugsanlagen: Schindler
Metallbauarbeiten: Metalu SA
Ausbau / Tischlerarbeiten: Wider SA, Eskiss SA, Pittet Frères SA (Türen)
Ausbau / Systemtrennwände: Pan-All
Ausbau / divers: LF Sols SA, Famaflor SA, Bagattini SA, Trisax SA
Gartenbau: Boccard SA
Hersteller
Möbelstoffe, Vorhänge: Kvadrat
Möbel: Vitra
Energiestandard
Haute Performance Énergétique
Bruttogeschossfläche
14.260 m²
Gesamtkosten
k.A.
Fotos
Jan Bitter