Der «Tatzelwurm» oder: die Erfolgsgeschichte eines Sofas

Der «Tatzelwurm» ausgestellt in Italien (Foto © de Sede)

Dass ein Sofa einen Kosenamen bekommt – wie beim «DS-600» der Fall – ist recht selten und unterstreicht, dass der Entwurf etwas ganz Besonderes ist. Dabei lässt gerade die Bezeichnung «Tatzelwurm» aufhorchen. Dieses alpenländische, schlangenähnliche Fabeltier ist ein Mischwesen; es setzt sich also aus unterschiedlichen Teilen zusammen, was schon im Wort selber anklingt. Die Tatze, die Bezeichnung für die Pfote eines Raubtiers oder einer Katze, deutet auf etwas Weiches hin, der Wurm auf etwas Langes, das aus mehreren Gliedern besteht. Diese Eigenschaften beschreiben den legendären Entwurf von Klaus Vogt (*1938), Ueli Berger (1937–2008), Eleonore Peduzzi-Riva (*1939) und Heinz Ulrich (*1942) schon ziemlich treffend. 

Das modulare Sitzmöbel «DS-600», auch «Endlossofa» genannt, kam 1972 auf den Markt. Im Vorfeld hatte der Designer und Grafiker Alfred Hablützel (*1931), der unter anderem auch für de Sede beratend tätig war, angeregt, dass auch junge Designer*innen Vorschläge für Entwürfe einreichen können – darunter waren dann auch die vier eben genannten. Da sie bemerkten, dass ihre Vorschläge eine ähnliche Stossrichtung hatten, taten sie sich kurzerhand zusammen. Der Gemeinschaftsentwurf nahm in langen Teamsitzungen im Mailänder Büro von Eleonore Peduzzi-Riva Form an. Die Idee des Kollektivs war, eine Wohnlandschaft zu kreieren, auf der man wie auf einem herkömmlichen Sofa sitzen kann. Zunächst war man bei de Sede ob dem ungewöhnlichen Entwurf etwas skeptisch, wagte aber schliesslich doch die Lancierung – eine goldrichtige Entscheidung, wie sich zeigen sollte.

Das «Endlossofa» entwickelte sich zum Dauerbrenner, der bis heute nichts von seiner Attraktivität verloren hat. (Foto © de Sede)
Die Aktualität der 1970er-Jahre

Entstehung und Form des «DS-600»-Systems widerspiegelten den Zeitgeist der 1970er-Jahre. Die soziale Revolution von 1968 fand damals in vielen experimentellen Entwürfen ihren Niederschlag. Stichworte wie «flexibles Wohnen» und «Wandelbarkeit» prägten nunmehr die Wohnkultur. Dass diese Themen auch heute wieder aktuell sind, hat wohl mit der zirkulären Struktur vieler gesellschaftlicher Entwicklungen zu tun. Besonders Sitzmöbel reflektieren über ihre Körperbezogenheit unsere Position in der Welt. Der «Tatzelwurm» passte so gesehen perfekt in diese Zeit. Das aparte Sitzmöbel hinterfragte gängige Vorstellungen und funktionale wie auch ästhetische Normen des bürgerlichen Wohnens. 

Zugleich überdauerte das Möbelstück zeitspezifische Moden und wurde zu einer Designikone mit internationaler Strahlkraft. Das «DS-600» wird bis heute von de Sede in der Schweiz produziert und ist sowohl in hochwertigem Leder als auch in verschiedenen Indoor- und Semi-Indoor Stoffen erhältlich. Neu ist zudem der Samtstoff «Velours» verfügbar. Das Sofa besteht aus einzelnen abgerundeten Polstersegmenten, die durch einen schwimmhautartigen Reissverschluss miteinander verbunden werden. Dieser modulare Aufbau erlaubt, das Möbel auch über Eck zu führen und es an unterschiedliche Raumbedingungen frei anzupassen. 

Das «DS-600» wird noch immer produziert und kontinuierlich weiterentwickelt. (Foto © de Sede)
Wandelbar

Die aus den addierten Teilen entstehende Sitzlandschaft wirkt verspielt und ist zugleich bequem. Zum hohen Sitzkomfort trägt neben der daunenweichen Polsterung ein Abschlusssegment mit Armteil bei. Die Möglichkeit, die «Tatzelwurm»-Landschaft buchstäblich ausufern zu lassen, bieten zudem Hockerelemente ohne Lehne. Die präzise Verarbeitung, für die De Sede weithin bekannt ist, trägt auch wesentlich zur Ausdruckskraft des «DS-600» bei. Der frühere Namenszusatz «Organic», den man später fallen liess, nahm auf die geschmeidigen und naturähnlichen Formen Bezug. Die aneinandergereihten Segmente erinnern tatsächlich an pflanzliche Gebilde – oder eben an eine Schlange; so entstand über die Zeit der Spitzname «Tatzelwurm». Das «DS-600» schaffte es sogar als längstes Sofa der Welt ins Guiness-Buch der Weltrekorde.

Der Erfolg des charakterstarken Möbelstückes ist nicht allein seinem Design zu verdanken, sondern auch seiner medialen Präsenz. So war einst etwa das Studio des Schweizer Fernsehens damit bestückt. Auch auf der Kinoleinwand war der «Tatzelwurm» wiederholt zu sehen; seine vielleicht prominentesten Auftritte hatte das «DS-600» in James Bond Filmen. Und sogar unter Rockstars scheint das Modell ganz offensichtlich beliebt zu sein. Das Faszinierende an diesem Entwurf ist zweifellos seine Wandelbarkeit. Diese betrifft sowohl die unbegrenzten Ausbaumöglichkeiten, die grosse Materialien- und Farbenvielfalt als auch das breite Spektrum seines ästhetischen Ausdrucks. All diese Facetten sind im Namen «Tatzelwurm» sehr schön vereint. Auch heute arbeitet das de Sede-Designteam mit Stolz und Ehrgeiz weiter an dem Kultmöbel, das seit 45 Jahren geradezu synonymisch für die Manufaktur steht.

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