Die sesshafte Klasse

Autor:
Werner Girgert
Veröffentlicht am
Nov. 9, 2011

Eine Studie in elf europäischen Städten relativiert die Thesen des amerikanischen Urbanisten Richard Florida, an denen sich auch in Deutschland immer mehr Lokalpolitiker orientieren. Das stadtpolitisch wirkungsmächtige Klischee der Kreativen Klasse hält der Untersuchung nicht stand: Europas Kreative beeindrucken durch ihre geringe Mobilität. Das sollte auch stadtpolitische Konsequenzen haben.
 
Wer unter den verschärften Bedingungen weltweiten Wettbewerbs mit der Zauberformel für wirtschaftliches Wachstum aufwarten kann, dem ist Aufmerksamkeit sicher. Das belegt der anhaltende Erfolg des amerikanischen Urbanisten Richard Florida. In seinem 2002 erschienenen Buch "The Rise of the Creative Class" weist der Professor aus Pittsburgh den Städten den Weg in die postindustrielle Zukunft. Stärker als jemals zuvor werde das Schicksal der Städte davon abhängen, ob es ihnen gelingt, kreative Köpfe anzulocken, predigt Florida seither mit beträchtlichem Erfolg. Lokalpolitiker, die die Zeichen der Zeit erkannt zu haben meinen, dürften keine Chance ungenutzt lassen, der stetig wachsenden Gruppe der Kultur- und Wissensarbeiter ein möglichst angenehmes Wohn- und Arbeitsumfeld zu bieten. Denn das laut Florida nahezu uneingeschränkt mobile Heer der Kreativen lässt sich nur dort nieder, wo es seine Ideale am ehesten verwirklicht sieht: eine tolerante städtische Gesellschaft, Offenheit gegenüber Minderheiten, ein qualitativ hochwertiges Wohnumfeld und ein vielfältiges kulturelles Angebot.
Dass Floridas Buch zum Bestseller avancierte, überrascht kaum. Bürgermeister und Stadtplaner von Minneapolis bis Mannheim haben den Lobgesang auf die Kreativen begierig aufgenommen und längst in stadtentwicklungspolitische Handlungsanweisungen übersetzt. Ein wenig Lifestyle hier, eine Brise urbane Kultur dort, Galerien und Coffeeshops, attraktive Loft-Wohnungen, möglichst in Wassernähe, und fertig ist der ideale Mix aus harter Infrastruktur und weichen Standortfaktoren.

Was aber, wenn die Künstler und Filmemacher, Mode-Designer und Software-Entwickler, Medienschaffenden und Internet-Unternehmer in Europa nicht annähernd so mobil sind, wie Florida es aufgrund seiner Daten aus amerikanischen Städten nahe legt? Floridas Kritiker jedenfalls erhalten jetzt Unterstützung durch Wissenschaftler aus Frankreich, den Niederlanden und Ungarn. Die Forschergruppe um Michel Grossetti und Olga Gritsai hat Kreative in elf europäischen Städten nach den Motiven für ihre Wohnortwahl befragt. Ihr Ergebnis: Europäische Kultur- und Wissensarbeiter hält es in der Mehrzahl an ihrem Geburts- oder Studienort. Bei einem Wechsel des Wohnorts ist ihnen die Aussicht auf einen sicheren und gut bezahlten Arbeitsplatz wichtiger als Toleranz und kulturelle Vielfalt. In Sachen Mobilität unterscheiden sich die Kreativen in Europa damit kaum von anderen Berufsgruppen.
 
Sie bleiben am Geburts- oder Studienort
Nahezu jeder Zweite (45,7 %) der insgesamt 2.355 Befragten ist bereits in der Stadt geboren, in der er lebt und arbeitet. Bezieht man die jeweilige Metropolregion mit in die Betrachtung ein, dann erhöht sich der Anteil auf 53,3 Prozent. Barcelona, oft als Mekka der Kreativen gerühmt, erweist sich nüchtern betrachtet als Stadt der Immobilen: Mehr als drei Viertel (76,8 %) der Befragten im Kreativsektor stammen aus der Stadt oder aus der Region. Ähnlich verwurzelt sind nur noch ihre Kollegen in Mailand (74,8 %) und im polnischen Poznan (72,1 %). Am niedrigsten liegen die Quoten der Einheimischen unter den Kreativen in Dublin (31 %), Toulouse (36 %) und Amsterdam (37,2 %).
Besonders gering ist die Bereitschaft zur grenzüberschreitenden Mobilität. Der Anteil der Ausländer in der Kreativbranche liegt im Durchschnitt der elf untersuchten Städte bei mageren 11,6 Prozent. Die höchste Ausländerquote fanden die Forscher in Dublin (50 %), deutlich abgeschlagen folgen Riga (23,9 %) und Amsterdam (16,9 %). Das Schlusslicht bildet Helsinki mit lediglich 1,3 Prozent. Entsprechend dünn gesät sind auch die Absolventen ausländischer Universitäten in den Kreativszenen der meisten untersuchten Städte. Im Schnitt nur jeder Zehnte (9,7 %) hat sein Studium im Ausland abgeschlossen. Den höchsten Anteil erreichen die ausländischen Studienabsolventen in Riga (37,7 %) und Dublin (25 %). Das Schlusslicht bildet Poznan, wo keiner der 200 Befragten mit einem Studienabschluss aus dem Ausland aufwarten kann.
Auffallend ausgeprägt ist unter den Kreativen die Neigung, sich am ehemaligen Studienort auch beruflich niederzulassen. Am deutlichsten wird das in Poznan: Neun von zehn Befragten (89,7 %) haben bereits während ihres Studiums in der Stadt gelebt. Ähnlich sieht es in Barcelona (83,0 %) und Mailand (70,5 %) aus. Im Unterschied dazu weisen die Kreativbranchen in München (32,1 %) und Leipzig (36 %) die geringsten Quoten heimischer Studienabsolventen auf.
 
Wie schlecht es um die von Florida propagierte Mobilität der "Kreativen Klasse" in Europa bestellt ist, zeigt ein Blick auf die Zahlen für die "echten Zuwanderer" unter den Kreativen, diejenigen also, die weder in der jeweiligen Stadt oder Region geboren sind, noch dort studiert haben. Gerade einmal jeder Vierte (26,5 %) fällt im Durchschnitt der elf Städte in diese Kategorie. Die meisten (73,5 %) sind in der Stadt geblieben, in der sie schon das Licht der Welt erblickt oder studiert haben. Selbst Dublin, die Stadt mit dem höchsten Anteil an Zuwanderern (47,4 %), bleibt unter der 50-Prozent-Marke. An zweiter Stelle rangiert Amsterdam (40,4 %). München erreicht eine Quote von 35,3 Prozent, Leipzig kommt auf 33,7. Die Kreativszenen in Mailand (16,0 %), Barcelona (12,1 %) und Poznan (5,9 %) bilden die Schlusslichter in Sachen Mobilität.

Die Währung heißt: Arbeitsplatz
Ausgerechnet die von Florida gefeierten weichen Standortfaktoren spielen bei der Wahl des Wohnorts für die kreative Klasse in Europa nur eine untergeordnete Rolle: Geistige Offenheit, der tolerante Charakter einer Stadt oder die kulturelle Vielfalt rangieren zusammen genommen nur bei neun Prozent der Befragten an erster Stelle. Die größte Gruppe (21,1 %) verweist ganz traditionell auf den Arbeitsplatz als wichtigstes Motiv für die Wohnortwahl. Es folgen die persönlichen Bindungen an die Stadt, in der man geboren ist (19,7 %), in der die Familie lebt oder in der man studiert hat.
 
Politikern und Planern sollten die Ergebnisse der Studie zu denken geben. Flotte Image-Kampagnen, teure Investitionen in die Aufwertung ehemaliger Gewerbe- und Industrieareale zur Schaffung von Wohn- und Arbeitsräumen, das allein reicht nicht, um im Wettbewerb der Städte auf Dauer zu punkten. Nur wenn eine Stadt auch gute und sichere Arbeitsplätze zu bieten hat, kann sie die Vertreter der Kreativbranche motivieren, sich dort anzusiedeln. Weiche Standortfaktoren entscheiden aus Sicht der Forschergruppe eher darüber, in welchem Stadtteil sich die neu Zuziehenden dann niederlassen.
Angesichts der weit verbreiteten Vorliebe, sich am ehemaligen Studienort auch nach einer Stelle umzusehen, gehen die Autoren der Studie davon aus, dass in Europa den Universitäten eine ganz entscheidende Bedeutung bei der räumlichen Verteilung des kreativen Personals zukommt. Gerade wenn es um die Formulierung politischer Handlungsstrategien zur Stärkung der Kreativwirtschaft geht, könnte es sich für europäische Städte mithin als sinnvoll erweisen, die Aufmerksamkeit bereits auf die Studierenden am Ort zu richten und ihnen ein attraktives Umfeld bereitzustellen. Werner Girgert

Der Autor ist Journalist und Soziologe. Der Schwerpunkt seiner Arbeit liegt im Bereich der Stadtforschung. Sein besonderes Interesse gilt den Folgen der Globalisierung und dem Thema Gentrifizierung.
Weiterlesen
Werner Girgert: Der Bilbao-Defekt

Literatur:
Hélène Martin-Brelot, Michel Grossetti, Denis Eckert, Olga Gritsai, Zoltán Kovacs: "Not So Mobile 'Creative Class': A European Perspective". Die Studie ist im Internet als GaWC Research Bulletin 306 verfügbar.

Serie Diskursbegriffe – bisher erschienene Beiträge
Christian Holl: Spatial Turn
Ursula Baus: Neue Räume, neue Begriffe
Robert Kaltenbrunner: Nachhaltigkeit
Christian Holl: Pop
Ursula Baus: Kontinuität
Robert Kaltenbrunner: Massenkultur (Teil1)
Christian Holl: Dichte
Robert Kaltenbrunner: Massenkultur (Teil 2)

Die Bilder dieses Beitrags sind von Martin Richter, mit denen er beim Europäischen Architekturfotografie-Preis architekturbild 2007 "Mein Lieblingsplatz" ausgezeichnet wurde.
Martin Richter über die Bildserie "Schutzräume": "Höhlen sind für Menschen seit jeher Stätten der Zuflucht. Sie bieten Unterschlupf vor Regen, Wind und wilden Tieren. Die Menschen, die vor Wind geschützt und fern der wilden Tiere leben und arbeiten, haben Probleme anderer Art: Sie sehen sich subtileren Ängsten und Zwängen ausgesetzt, die aber ebenso bedrohlich sind und von steinernen Wänden nicht abgehalten werden. Auch von ihnen würde sich so mancher ab und zu gerne verkriechen. Verkriechen und Schutz suchen an einem eigenen Ort, zeit- und raumlos, voll Ruhe und Geborgenheit.
Mein Fotoessay 'Schutzräume' zeigt Räume in Büros und anderen Funktionsarchitekturen, in denen ich mittels verschiedenster Materialien improvisierte Höhlen gebaut habe. Inspiriert wurde die Arbeit durch die Konstruktionen von spielenden Kindern sowie durch das Gefühl von Prekarität und Unbeständigkeit, mit dem ich in der heutigen Zeit nicht allein bin."