Wiedergelesen: Architektur als Aneignung und Weltinterpretation

Autor:
ch
Veröffentlicht am
Okt. 3, 2012

Die aktuelle Debatte um Bürgerbeteiligung lässt die Frage des architektonischen Entwurfs merkwürdig unberührt. Partizipation reduziert sich darauf, Vorschläge zu bewerten. Das war einmal anders. Ein Blick in die Literatur bestätigt: Wir sollten es uns gönnen, das Potenzial von Architektur in widersprüchlichen Auffassungen zu sehen, die weder gegeneinander ausgespielt noch miteinander versöhnt werden müssen.
 
Die ambivalente Problematik der Partizipation haben wir in unserer letzten Ausgabe (Jenseits von Facebook) aufgeworfen. Wenn innerhalb des Feldes von Stadtplanung und Architektur Partizipation zur Diskussion steht, dann meist in Bezug auf Verfahrensfragen in Stadtplanung oder Städtebau. Beteiligung ist dort Teil einer Grundlagenermittlung, Teil eines Verfahrens, in dem zur Sprache gebracht werden kann, was Planer nicht wissen können. Sie besteht in der Artikulation von Interessen als Voraussetzung dafür, dass sie gegeneinander abgewogen werden können. In vielen der inzwischen kritisierten Fälle ist Beteiligung ein Instrument, den noch verbliebenen offenen Gestaltungsraum innerhalb der grundsätzlich bereits getroffenen Entscheidung zu nutzen, damit diese akzeptiert wird.
In der Architektur spielt Beteiligung selten eine vergleichbare Rolle. Partizipation beschränkt sich überwiegend darauf, Entwürfe zu bewerten. Dass der Entwurf selbst das Bedürfnis von Anteilnahme und Aneignung reflektiert und integriert, ist die Ausnahme. Das war einmal anders. Ein Blick in zwei inzwischen etwas ältere Bücher könnte Aufschluss darüber geben, wie das Element des Partizipativen als Teil von Architekturauffassungen gesehen werden kann.
 
1968: Bauen ein Prozess
"Bauen ein Prozess" veröffentlichten Lucius Burckhardt und Walter Förderer. Darin wird zunächst weniger die gestalterische Autonomie des Architekten in Frage gestellt als vielmehr die Rolle, die Gebäude im gesellschaftlichen Prozess spielen: "Untereinander zusammenhängende Probleme werden separiert und einzelnen baulichen Lösungen zugeführt, wie sie durch Sitte und Vorstellung und von den Architekturschulen überliefert sind", heißt es schon auf der ersten Seite. Dabei werden erst einmal nicht die Architekten ins Visier genommen, sondern der Politiker, denn der "zieht die einzelne Aufgabe, die ihm Erfolg bringt, dem längeren Engagement vor." Er trachte danach, Pläne zu erfüllen. Der Sinn des Planens sei aber nicht die Erfüllung, sondern die Festlegung einer Tendenz. Dann erst kommt der Architekt ins Spiel: "Spender der Lösung ist der Fachmann, im Falle baulicher Lösungen der Architekt".  Und weiter: "Ihm fällt es zu, ein Thema rasch aufzugreifen und zu einer Gestaltung umzuformulieren." Diese Liason zwischen Entscheider und Architekt ist also ein grundlegendes Missverständnis darüber, wie Probleme gelöst werden können. Burckhardt und Förderer plädieren dafür, den Glauben an die Möglichkeiten einer definitiven Erfüllung von Bedürfnissen durch ein einmal fertiggestelltes Bauwerk aufzugeben. Denn die Dauer der Bedürfnisse werde überschätzt, es gelte den Umbau als "Feedback des Bauens" zu akzeptieren, ihm Raum zu geben. 
Welche Konsequenz wäre in Bezug auf Gestaltung daraus zu ziehen? Die eine ist, dass Architektur sich nicht darin erschöpfen darf, ein Programm abzuarbeiten, sondern aufnehmen können muss, was nicht geplant war; dass Veränderungen vorgenommen werden können müssen. Es sollten "von Situation zu Situation Beschlüsse gefasst werden können". Insbesondere müsse der "Perfektionismus, der den Bewohner zur Untätigkeit verdammt hat" revidiert werden. Die Autoren vertreten die Ansicht, dass radikal zwischen einer räumlichen Substanz und der Bedeutung vermittelnden "Sekundärarchitektur" unterschieden werden müsse. Architektur könne heute keine große Gestalt mehr sein, sondern nur eine solche der Zeichen, die als Sekundärarchitektur verstanden, sichert, dass der "bloße architektonische Raum" ablesbar wird und im visuellen Gedächtnis verankert werden kann.
 
1981: Zwei Architekturkonzepte
Dreizehn Jahre nach "Bauen als Prozess", erschien von Ingo Bohning "'Autonome Architektur' und 'partizipatorisches Bauen'. Zwei Architekturkonzepte", herausgegeben vom Institut für Geschichte und Theorie der Architektur an der ETH Zürich. Seit 1968 hatte sich einiges im Architekturdiskurs getan, auf das Bohning Bezug nimmt. Zum einen war 1973 auf der Triennale von Mailand eine Gruppe von Architekten an die Öffentlichkeit getreten, "um mit erstaunlichem Selbstbewusstsein die Erneuerung der architektonischen Disziplin zu verkünden". Mit dem Begriff "Rationale Architektur" suchte diese Gruppe um Aldo Rossi den Anschluss an die Architektur der 1920er und 1930er Jahre in Italien. Wichtiges Kriterium war dabei das der Autonomie. Bohning zitiert aus dem Ausstellungskatalog, wo es heißt, "dass die Architektur als autonomes Faktum der Technik und der Kultur nur durch ein großes Werk der Neugründung den augenblicklichen Zustand der Krise beenden kann." Da Bohning den Begriff der rationalen Architektur für unglücklich hält, ersetzt er ihn durch den der autonomen Architektur.
Zum anderen waren mit dem Wohnkomplex der Medizinischen Fakultät von Leuven (Lucien Kroll, fertiggestellt 1976), dem Wohnbauprojekt Hollabrunn (Ottokar Uhl und Jos Weber, 1976), dem Gemeinschaftszentrum 't Karregat in Eindhoven (Frank van Klingeren, 1973) oder dem Centraal Beheer in Appeldorn (Herman Hertzberger, 1972) Gebäude entstanden, die auf verschiedene Weise das, was Burckhardt und Förderer sich vorgestellt haben mögen, verwirklichten. Das partizipatorische Bauen, das sich darin ausdrückt und das, ohne gestalterische oder künstlerische Ansprüche aufzugeben, das Prozessuale betont, werde, so Bohning dadurch charakterisiert, dass die Gestaltung der Umwelt nicht nach innerarchitektonischen Gesetzen erfolgen solle, "sondern das Leben selbst soll der Bestimmungsgrund der Umweltgestaltung sein."
 
Dem gegenüber steht die autonome Architektur, die überzeitlich und überpersönlich gültige Typen und Formen sucht, sich dabei der geometrischen Grundformen bedient. Mit Verweis auf Frei Otto, Moshe Saftie, Michelucci und anderen heißt es: "Die expressive Freiheit der Entwürfe bedeute in Wirklichkeit Unfreiheit, da sie nicht auf allgemeingültigen Prinzipien, sondern auf der Willkür subjektiver Entscheidungen beruht". Gesucht wird eine Architektur "frei von den Zufälligkeiten des historischen Augenblicks, eine endgültige, zeitlose Lösung" – eine Auffassung von Architektur, der sich auch heute viele werden anschließen können. In anderer Hinsicht trifft sich aber auch diese Architektur mit den Überlegungen von Burckhardt und Förderer, denn Rossi lehnt es ab, wie Bohning ausführt, "eine wünschenswerte Lebensweise unmittelbar in eine räumlich-architektonische Lösung zu übersetzen. Als Argument führt er an, dass derartige Lösungen eine Verbesserung der Lebensweise nicht garantieren können, da die Lebensweise von der Gesellschaft und nicht von der Architektur abhängt."
Bohnings Buch hält beide Ansätzen für legitim. Er erkennt in der autonomen Architektur das an, was Burckhardt und Förderer außer Acht gelassen hatten: dass Architektur nicht nur über austauschbare Zeichen zum Medium der Welterfahrung und Weltinterpretation wird, sondern dass sie eine utopische Kraft haben kann. "Nach wie vor gehe es um die Suche nach einer idealen Gesetzlichkeit und einer Gesellschaft, die dem zufälligen Leben des einzelnen einen Sinn gibt, es ordnet und es mit Klarheit durchdringt."
 
2012: – ?
Wir sollten es uns gönnen, diese verschiedenen Ansätze als nicht vereinbare, aber trotzdem legitime Auffassungen nebeneinander stehen zu lassen, ohne die Widersprüche zwischen ihnen auflösen zu wollen: Die autonome Architektur als unveränderliche Konstante, die sich frei davon macht, den alltäglichen Prozess zu begleiten und die Architektur, die Freiheiten der prozessualen Gestaltung und Aneignung gewährt.
Das hieße aber auch, beide Ansätze ernst zu nehmen. Zum einen zu fragen, wie sich der subversive Charakter des Autonomen äußern könnte, auf den noch die Gruppe von 1973 bestanden hatte, da sie "sich dem unmittelbaren Leben" und damit auch der politischen Vereinnahmung entziehen wollte. In dem die Architektur durch die "Reinheit" ihrer Form eine Wirklichkeit für sich bildet, wollte sie sich jedem ideologischen Missbrauch entziehen. Die Skepsis, die Bohning bereits 1981 für angebracht hielt, müsste ein steter Begleiter dieser Architektur sein.
In Bezug auf den partizipativen Ansatz gilt es sich wieder ins Gedächtnis zu rufen, dass dieser nicht dem Entwurf und dem Bauen lediglich vorauszugehen habe, sondern als ein die Architektur konstituierendes Element ihr eingeschrieben sein sollte. Erst dann ist Beteiligung als grundsätzliches Verständniss von Architektur mehr als eine Legitimationshilfe, die den Bewohner dann nur etwas später "zur Untätigkeit verdammt". Solche Partizipation ermöglichte eine Architektur, die, anders als es die dominierende Darstellung von Architektur vermittelt, nicht unmittelbar nach ihrer Fertigstellung als Objekt den vermeintlichen Höhepunkt ihrer potenziellen Qualitäten erreicht – solche partizipatorische Architektur würde verhindern, dass Architektur grundsätzlich reduziert wird auf ihren Entwurf, auf ihre Idee, für die vorab durch Bilder überzeugt werden muss, auf denen auch gerne mal die Sonne aus Norden scheint. Es könnte deswegen durchaus helfen, viele der aktuellen Diskussionen produktiv zu beleben, wenn wir Architektur in diesem Spannungsfeld ihrer autonomen Qualität und ihrer fortwährenden Veränderung sehen könnten. ch
Jenseits von Facebook

Wiedergelesen: Hat die Linke doch recht?

Wie wir über Architektur streiten

Ingo Bohning: "Autonome Architektur" und "partizipatorisches Bauen". Zwei Architekturkonzepte. ETH Zürich, Geschichte und Theorie der Architektur, Band 24, Basel 1981

Lucius Burckhardt und Walter Förderer: Bauen ein Prozess. Zürich 1968