Wissen statt Meinung

Katinka Corts | 14. Februar 2025
Hein de Haas will aufklären: Migration sei, sagt der renommierte Forscher, kein Problem, das gelöst werden muss, sondern ein integraler Bestandteil des globalen Wandels und der Entwicklung. (Foto: © Wilma Hoogendoorn)

Forschungsthemen werden oft nur in Papers und wissenschaftlichen Fachzeitschriften diskutiert. Leider erreichen sie so nur eine kleine Gemeinde von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Darum geht der Migrationsforscher Hein de Haas einen anderen Weg und hat sich entschlossen, seine Forschung öffentlicher zu machen: Er schrieb ein Buch, das ein breites Publikum anspricht. Als der Niederländer voriges Jahr »Migration: 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt« an der ETH Zürich präsentierte, war das Interesse an seiner Arbeit groß. »Wir Akademiker kommunizieren unser Wissen oft nicht auf eine für die Öffentlichkeit verständliche Weise«, sagte der Soziologe, der seit mehr als 30 Jahren zum Thema Migration forscht und weltweit als Ko­ry­phäe auf diesem Gebiet gilt. Mit seinem Buch möchte de Haas deshalb ganz ohne wissenschaftliche Fachsprache das öffentliche Bewusstsein schärfen und eine fundiertere Diskussion über Migration anregen. 

Gerade im aktuellen politischen Klima ist das relevant, denn die Debatte über Migration ist in vielen Ländern extremer und polarisierter geworden. Erst im vergangenen Herbst lehnte die Schweiz den Beitritt zum UNO-Migrationspakt ab. US-Präsident Donald Trump hat unterdessen an der Grenze zu Mexiko den Notstand ausgerufen und setzt Massenabschiebungen um. Auch in Europa ist nach den Wahlen in Österreich, bei denen die FPÖ erfolgreich abschnitt, und angesichts der Prognosen zur anstehenden Bundestagswahl in Deutschland, die einen hohen Stimmenanteil für die AfD voraussagen, ein Rechtsruck spürbar. Die Grenzen zu schließen und alle abzuweisen, die man nicht im Land haben möchte, scheint für viele Menschen ein probates Mittel zu sein. Doch de Haas gibt zu bedenken, dass jede politische Partei – von links bis rechts – jeweils nur mit jenen Fakten aus der Forschung argumentiere, die ihre eigenen Ansichten stützen. Wird zum Beispiel gesagt, ein Land brauche Zuwanderer, um die Probleme seiner alternden Gesellschaft zu lösen, widerspricht der Forscher: In der Realität sei die benötigte Einwanderungsrate, um den Effekt der Überalterung tatsächlich auszugleichen, unrealistisch hoch und politisch gar nicht durchsetzbar. Auch gibt er zu bedenken, dass Hilfsorganisationen genauso agieren und kritische Themen ausblenden, was wiederum ihrer Glaubwürdigkeit schaden kann. In den Medien werden die Aussagen der unterschiedlichen politischen Lager außerdem oft sensationalistisch dargestellt, was den einzelnen Aspekt zusätzlich überhöht.

Diese Mischung aus Fehlinformationen und Propaganda ist gefährlich, denn sie macht eine evidenzbasierte und rationale Diskussion über Migration unmöglich. Im Buch räumt de Haas deshalb Missverständnisse aus und vermittelt einen neutralen Blick auf das Thema Migration. Allem voran müsse verstanden werden, schreibt der Forscher, dass Migration kein Problem sei, das gelöst werden muss, sondern ein integraler Bestandteil des globalen Wandels und der Entwicklung. Migration gab es schon immer, nur wurde sie nicht immer so bezeichnet, und sie ist eng mit Entwicklungsprozessen wie Urbanisierung und Wirtschaftswachstum verbunden. Da Entwicklung oft zu mehr Migration führt und Einwanderung dem Konjunkturzyklus folgt, scherzt de Haas: »Wer Zuwanderung reduzieren will, muss nur seine Wirtschaft ruinieren.«

Cover: © S. Fischer Verlag

Über vier Jahrhunderte hinweg waren es die Europäer, die sich als Kolonisten, Missionarinnen, Soldaten und später als gewöhnliche Migranten in alle Welt bewegten, ohne um Erlaubnis zu fragen – laut de Haas die größte illegale Migration in der Menschheitsgeschichte. Seit dem Zweiten Weltkrieg haben sich diese Muster jedoch umgekehrt: Europa ist nicht mehr ein Kontinent der Auswanderung, sondern zieht Migranten an, weil es dem Kontinent wirtschaftlich besser geht, das Bildungsniveau der einheimischen Bevölkerung steigt und die Alterung der Bevölkerung zu einem Arbeitskräftemangel führt. Das bedeutet jedoch nicht, betont de Haas, dass Entwicklung und wirtschaftliches Wachstum in den Herkunftsländern automatisch zu weniger Migration führen. Im Gegenteil: Sie können die Fähigkeiten und das Bestreben der Menschen auszuwandern sogar noch erhöhen. Stereotypische Darstellungen von Migration sind dabei nicht hilfreich, denn Menschen hätten Migration schon immer genutzt, um ihre Lebenssituation zu verbessern. 

Viele politische Maßnahmen, die wir aktuell erleben, sind laut Hein de Haas kontraproduktiv, weil sie schlichtweg nicht auf einem fundierten Verständnis der Migrationsprozesse basieren. Insbesondere den Fokus auf Grenzkontrolle kritisiert er, denn dieser führe oft zu ungewollten Nebeneffekten wie einer Verlagerung von Migrationsrouten oder einer Zunahme der illegalen Migration. Es sei dann heuchlerisch, wenn Politikerinnen und Politiker Tränen über Migranten vergießen, die an den Grenzen gestorben sind – schließlich habe erst ihre eigene Politik zu diesen Tragödien geführt.

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