Ungesehenes entdecken

Katinka Corts | 24. Januar 2025
Chemnitz ist 2025 Kulturhauptstadt Europas und nutzt die Chance, mehrere Interventionsflächen in der Stadt neu und zukunftsweisend zu entwickeln. (Foto: Peter Rossner)

Im Oktober 2020 setzte sich die Stadt Chemnitz mit ihrer Bewerbung um den Titel Kulturhauptstadt Europas gegen Magdeburg, Hannover, Hildesheim und Nürnberg durch. Das umfangreiche Programm, das nun im Festjahr zu erleben ist, umfasst 223 Projekte und über 1000 Veranstaltungen, die hauptsächlich zwischen April und Ende November stattfinden. Interessant ist, dass viele Projekte aus den Ideen und Initiativen der Menschen aus Chemnitz und der umliegenden Region entstanden sind, was eine starke Identifikation der Bevölkerung mit dem Programm erhoffen lässt. 

Die Aussicht, den Titel Kulturhauptstadt Europas zu tragen, belebte jedoch nicht nur die allgemeinen kulturellen Programme, auch die Stadtplanung hat sich große Ziele gesetzt. In Chemnitz definierte man insgesamt 30 sogenannte Interventionsflächen. Sie gehören zu einem umfassenden Stadtentwicklungsprojekt. Ziel ist, mit Um- und Neugestaltungen Orte und Stadtteile weiterzuentwickeln, die lange Zeit brachlagen. Dort finden Bevölkerung und bislang Ortsfremde Räume zur Aneignung, gleichzeitig erhofft sich Chemnitz von der Wiederbelebung der Orte positive Effekte auf umliegende Viertel und eine Stärkung der Stadtgemeinschaft.

In der historischen Hartmannfabrik unweit des Stadtzentrums befindet sich das Besucherzentrum. (Foto: Peter Rossner)
Feierlicher Beginn des Kulturhauptstadtjahres in der Hartmannfabrik (Foto: Peter Rossner)

Einer der zentralen Orte für das Kulturfest ist die denkmalgeschützte Hartmannfabrik von 1864, die nach langem Leerstand saniert worden ist. Bis Ende der 1920er-Jahre war sie Teil des weltweit erfolgreichen Maschinenbauunternehmens von Richard Hartmann, der Tausende Lokomotiven und unzählige Maschinen für die Textil- und Spinnereiindustrie bauen ließ. Ihre Lage in der Innenstadt macht sie nun, über hundert Jahre später, mit Büros und Veranstaltungsflächen zum wieder erlebbaren Ort, der im Festjahr auch als Besucherzentrum dient.

Zeitgleich wird auch die Stadtwirtschaft östlich der Innenstadt an der Jacobstraße zum Kulturzentrum. Das bisher geschlossene Gebiet, das bis Mitte der 1990er-Jahre als Wartungs- und Lagerfläche genutzt wurde, kann damit erstmals geöffnet und zum städtischen Raum für die Bevölkerung werden. Die insgesamt fünf Gebäude hat das Berliner Architekturbüro KAPOK so umgeplant, dass künftig auf 6000 Quadratmetern Werkstätten, Ateliers, Musikräume sowie Flächen für Ausstellungen und Veranstaltungen zur Verfügung stehen werden. Aufgeteilt in die Themen Kreativität, Produktion und Event, werden die drei Innenhöfe mit unterschiedlichen Programmen bespielt. Mit Kiezkantine und Stadtteillager für Mieter und Nachbarschaft eröffnet sich ein breites Angebot, das Existenzgründerinnen genauso ansprechen soll wie Freizeitbastler und Familien. 

Die Bauarbeiten am Kulturzentrum Stadtwirtschaft sind noch in vollem Gange. (Foto: Franziska Wöllner)
Die Ideen zur künftigen Gestaltung der Stadtwirtschaft hat das Berliner Büro KAPOK entwickelt. (Visualisierung: KAPOK Architekten)

Eine weitere große Interventionsfläche ist der sogenannte Garagen-Campus auf dem ehemaligen Betriebshof und Straßenbahndepot an der Zwickauer Straße. Im westlichen Stadtteil Kappel, unweit der bis 2024 sanierten Tüllfabrik, stehen auf dem etwa 30'000 Quadratmeter großen Areal um die 10'000 Quadratmeter nutzbare Innenfläche zur Verfügung. Noch läuft die Sanierung der Hallen, doch Anfang des zweiten Quartals 2025 möchten die Chemnitzer Verkehrs-AG als Bauherrin und die Stadt die Projekt- und Veranstaltungsflächen in Betrieb nehmen. 

Etwas abseits des Zentrums gelegen, ist der Garagen-Campus eher als Zukunftsprojekt zu verstehen, als Investition in das Quartier und die angrenzenden Stadtteile. Ziel der Stadt ist, den Kulturstandort als relevante Adresse zu etablieren, nachdem die stark befahrene Ausfallstraße bislang eher ein großes Sorgenkind in der Stadtplanung war. Mit der umfangreichen Sanierung, der Neunutzung von Tüllfabrik und weiterer Industriearchitekturen entlang der Zwickauer Straße sowie landschaftsplanerischen Maßnahmen entwickelt die Stadt die Gegend nun zum Mischgebiet mit Wohnungen und »nicht störendem« Gewerbe.

Der Garagen-Campus ist dabei einer der »Maker-Hubs«, die in der ganzen Region zu finden sind beziehungsweise dort geplant werden – unter anderem in Augustusburg, Schneeberg und Mittweida. Alle Projekte verbindet der Wunsch der jeweiligen Gemeinden, die Standorte als neue Kreativzentren einzurichten, Ortsansässige zur Teilhabe zu ermutigen und zugleich möglichst viele wirtschaftliche Effekte in Form von Firmengründungen und Neuansiedlungen zu erreichen.

Das ehemalige Straßenbahndepot an der Zwickauer Straße wird zum Garagen-Campus. (Foto: Franziska Wöllner)
Die alten Hallen auf dem Gelände bieten viel Raum zur Aneignung. (Foto: Franziska Wöllner)

Chemnitz, eine Stadt, die über die vergangenen Jahrhunderte zahlreiche Veränderungen durchlebt hat und, einst als »Sächsisches Manchester« bezeichnet, zu den industriellen Wiegen Deutschlands gehört, zeigt als europäische Kulturhauptstadt stolz eigene Erfolge und Leistungen. Der Weg dahin war nicht einfach, wurde die Stadt in der jüngeren Vergangenheit vielfach eher als »die dritte« hinter Dresden und Leipzig betrachtet. Dieses Gefühl des Abgehängtseins wird nicht gerade subtil auch durch die Verkehrssituation bestätigt: Seit mehr als 20 Jahren wird an der Modernisierung der Bahnstrecke zwischen Leipzig und Chemnitz gearbeitet, die teilweise nur einspurig vorhanden und teilelektrifiziert ist. Der Planungsstand lässt darauf schließen, dass die Arbeiten erst nach 2030 abgeschlossen sein werden. Damit bleibt die Großstadt nach Norden lediglich mit Regionalzügen angebunden, über Dresden ist immerhin eine IC-Verbindung in Richtung Berlin vorhanden. 

Neben den infrastrukturellen Herausforderungen hat Chemnitz auch mit seiner unrühmlichen jüngeren Vergangenheit zu kämpfen, in der Aufmärsche von Rechtspopulisten und rechtsradikale Gewalt das Bild der Stadt prägten. Dieses Stigma mit positiven Bildern zu überwinden, ist die große Aufgabe, der sich Chemnitz dieses Jahr stellt. »C the unseen« als Motto, so doppeldeutig es auch verstanden werden kann, ist das Bekenntnis zur Vielfalt und Farbenfreude, die nur allzu oft in der Vergangenheit unter dem schwarzbraunen Deckel versteckt blieb beziehungsweise nicht den Weg ans Licht fand. 2025 hat daher das Potenzial, für Chemnitz ein wichtiges Jahr des Aufbruchs zu werden, vielleicht gar einer Wende hin zu einem neuen Selbstverständnis im Bundesland, in ganz Deutschland und womöglich sogar in Europa. 

Vorgestelltes Projekt 

ZÜRI NORD ARCHIPHOTO

Restitution einer Hofstelle im Dorf

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