Umfassend aufgearbeitet

Oliver G. Hamm | 30. Mai 2025
Das Arbeitslager Kamperfehn bei Oldenburg in Niedersachsen auf einer historischen Postkarte aus den 1930er-Jahren. Das Lager der Abteilung Kamperfehn des Reichsarbeitsdienstes wurde 1935 aufgestellt und bei Meliorationsarbeiten in den umliegenden Sumpfgebieten eingesetzt. (© Harald Bodenschatz Collection)

Seit mehr als 25 Jahren beschäftigt sich der Stadtplaner und Sozialwissenschaftler Harald Bodenschatz mit dem Thema Städtebau in Diktaturen. Mit »Städtebau im Nationalsozialismus« (DOM publishers) legt er nun – gemeinsam mit Victoria Grau, Christiane Post und Max Welch Guerra sowie sieben Co-Autorinnen und -Autoren – den abschließenden Band einer wissenschaftlichen Publikationsreihe vor, die sich in jeweils monografischer Form bereits mit der Sowjetunion, Italien, Portugal und Spanien beschäftigt hat. Von allen diesen detaillierten »Vorarbeiten« – auf jeweils mehreren hundert Seiten – profitiert der jüngste Band ungemein, da er den Städtebau der Nationalsozialisten im Kontext anderer europäischer Diktaturen jener Zeit betrachtet und ihn darüber hinaus in seiner ungeheueren Vielschichtigkeit und Komplexität, aber auch in seiner bemerkenswerten Dynamik mit teils erstaunlichen Kurswechseln in den zwölf Jahren ab 1933 zu erklären versteht. 

Der zunächst etwas reißerisch anmutende Untertitel des Buches »Angriff, Triumph, Terror im europäischen Kontext 1933–1945« verweist auf die zeitliche Dreiteilung in jeweils vierjährige Phasen: von der »Machtergreifung« der NSDAP am 30. Januar 1933 bis zum Jahr (mehrerer Umbrüche) 1937 (»Angriff: Auf der Suche nach dem nationalsozialistischen Städtebau«), von 1937 bis zum Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 (»Triumph: Große Pläne über alles«) und von 1941 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs (in Europa) am 8. Mai 1945 (»Terror: Städtebau im Weltkrieg«). Eine Einführung mit Begriffsbestimmungen zum Städtebau, zur Diktatur und zum nationalsozialistischen Städtebau sowie methodische Anmerkungen stimmen die Leser auf die drei Hauptkapitel ein. Kompakte Interventionen zu den »Wegmarken« 1933 (»Ruf nach dem guten Diktator. Ein Brief von Ernst und Ilse May«), 1937 (»Internationaler Wettbewerb. Weltausstellung in Paris«) und 1941 (»Gewaltsame Expansion. Ausstellung‚ Planung und Aufbau im Osten«), ein Epilog (»Städtebau nach dem Zusammenbruch. Reaktionen der Fachwelt in der unmittelbaren Nachkriegszeit«) und die Schlusskapitel »Zwölf lange Jahre. Städtebau – ein wesentliches Instrument der NS-Diktatur« und »Ausblick. Erinnern: aber was und wie?« ergänzen diese überaus materialreiche Arbeit.

Bauten der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt (DVL) in Johannisthal. Links im Hintergrund erhebt sich der zwischen 1934 und 1936 gebaute Trudelwindkanal. (Quelle: Bongartz 1939, S. 226)
Abstieg ins Rosenheimer Becken mit Blick auf die Alpen in einem 1936 veröffentlichen Artikel von Edith Ebers in der Zeitschrift Die Straße. Edith Ebers war Quartärgeologin und 1936 an den Bauarbeiten der Deutschen Alpenstraße, eines weiteren durch Fritz Todt betreuten Großprojekts, beteiligt. In ihrem Artikel plädierte sie für eine organische Streckenführung, die natürliche Raumgrenzen berücksichtigt und gleichzeitig eine weiträumige Sicht für den Fahrer ermöglicht. Ebers war die einzige Frau, die für die Zeitschrift Die Straße schrieb. (Bildquelle: Die Straße 18/1936, S. 583)

In ihrer Zwischenbilanz zu den Anfangsjahren der NS-Diktatur schreiben die Herausgeber: »Über ein städtebauliches Programm verfügten die neuen Machthaber nicht, die städtebauliche Form der nun aufzubauenden Diktatur war keinesfalls geklärt. […] Umso bemerkenswerter ist es, wie die junge Diktatur es verstand, […] in den Jahren 1933–1937 ein komplexes und differenziertes System städtebaulicher Institutionen und Organisationen, Instrumente und Zielkataloge zu schaffen, das ihr bald sichtbare Erfolge ermöglichte.« In fast allen Handlungsfeldern, denen die Autoren im ersten Hauptkapitel jeweils einen eigenen umfassenden Abschnitt widmen (unter anderem Reichsautobahn, Kleinsiedlungen statt Großstadt, Altstadtsanierung, Schulen–Heime–Ordensburgen, Arbeits-, Jugend- und Zwangslager, Militärbauten und Industriebauten), wurden bereits im Jahr 1933 entscheidende Weichen gestellt. Eine wichtige Rolle in der Frühzeit spielte die städtebauliche Propaganda mithilfe von Plakaten, Fotos (unter anderem Postkarten), Filmen, Druckmedien und Ausstellungen, etwa zum Wohnungsbau; auch in dieser Hinsicht hatten die sowjetische und die italienische Diktatur wertvolle Vorarbeit geleistet. Neu errichtete NS-Kultstätten wie das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg, das Reichserntedankfestgelände in Bückeberg, das Reichssportfeld in Berlin, der Königsplatz in München mit den Grabstätten der Toten des Hitlerputsches 1923, aber auch zahlreiche Thingstätten im ganzen Land dienten der Beschwörung einer deutschen »Volksgemeinschaft«.

Schaubild des Kraft-durch-Freude-Seebads Rügen von Architekt Clemens Klotz. Die Abbildung zeigt den zentralen »Festplatz« mit »Gemeinschaftsbau« und der Empfangshalle. Sie wurde Anfang 1938 auf der 1. Deutschen Architektur- und Kunsthandwerkausstellung im Haus der Deutschen Kunst zu München gezeigt. (Bildquelle: Deutschland baut, 1939, S. 28)
»Vogelschau der geplanten Innenstadt«, Artur Reck, 1941. Die neue deutsche Stadt im 1939 eingerichteten Regierungsbezirk Zichenau im heutigen Polen sei, so Artur Reck, »dem Charakter der ostdeutschen Kolonialstädte nachempfunden«. Geplant wird »der Neuaufbau einer Regierungsstadt in einer Größe bis zu etwa 50'000 deutschen Einwohnern«. (Bildquelle: Die Baukunst, November 1941, S. 225 | Textquelle: ebd., S. 226, 222)

Während in der ersten Periode bis 1937 der Städtebau und die damit zusammenhängenden Bauprojekte mit ihrem hohen Arbeitskräfteeinsatz etwa beim Wohnungs- und beim Autobahnbau dazu dienten, die NS-Diktatur politisch und auch wirtschaftlich zu stabilisieren, ging es ab Mitte der 1930er-Jahre »vor allem darum, Deutschland für den Eroberungskrieg vorzubereiten« und die NS-Diktatur nach innen und auch international zu behaupten. Insbesondere in den »Führerstädten« Berlin, München, Nürnberg, Hamburg und Linz (nach dem »Anschluss« Österreichs 1938) grassierte nun ein wahres Planungsfieber, jedoch wurde insbesondere von den hochtrabenden Plänen für neue Stadtzentren nur wenig realisiert. »Vorrang hatte der Bau von Rüstungsbetrieben, wichtig war der Bau von Wohnungen für Arbeiter in diesen Betrieben, dagegen war der repräsentative Städtebau in den neuen Städten drittrangig«, schreiben die Herausgeber in ihrer Zwischenbilanz der Jahre 1937–1941.

Die von Albert Speer, dem Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt und fortan reichsweit einflussreichsten Architekten, konzipierte Ausstellung »Neue Deutsche Baukunst« vermittelte ab 1940 in 21 Ländern das Bild des Städtebaus der NS-Diktatur; viele der gezeigten Repräsentationsbauten, aber auch neuere Städte blieben indes »ein Versprechen auf dem Papier«. Dieses überwiegend noch heute prägende Bild verdeckt »viele [realisierte] Bauprojekte, vor allem Bauten der Rüstungswirtschaft, der Kriegswirtschaft und der Ostkolonisation [und] es lässt die eigentlichen Mechanismen der Diktatur im Dunkeln, [ebenso] das faktisch breite Spektrum des Bauens […] und die Organisation der räumlichen wie physischen Ausgrenzung und Vernichtung« – Themen, denen die Buchautoren jeweils eigene Analysen widmen.

Originalbildunterschrift: »Kriegsbrücke der Organisation Todt an der Ostfront«, um 1943. Die Sicherung der militärischen Verkehrs­infrastruktur – Straßen, Brücken, Dämme, Eisenbahntrassen – war während des Vormarschs der Wehrmacht Aufgabe der Organisation Todt. (Bild- und Textquelle: Schönleben 1943, S. 100)
Fritz Todt vor der Staumauer des Wasserkraftwerks am Dnjepr in der Ukraine. Ein Abschnitt der Mauer war 1941 von ­sowjetischen Soldaten gesprengt worden, um den Vormarsch der Wehrmacht aufzuhalten. Ihre Wiederherstellung durch die Organisation Todt erfolgte mithilfe von Zwangsarbeitern 1942. 1943 wurde sie – diesmal durch die Wehrmacht – erneut zerstört, ihr Wiederaufbau durch die Sowjetunion folgte 1944–1950. (Bildquelle: Schönleben 1943, S. 104)

Die Periode 1941–1945 sollte dann kein geeignetes Material mehr für die Städtebau-Propaganda liefern. In dieser Zeit »kulminierte der Terror – vor allem im Osten. […] Für eine riesige Zahl an Zwangsarbeiterinnen und -arbeitern aus ganz Europa wurde das Großdeutsche Reich mit einem System von Lagern unterschiedlichen Typs überzogen. […] In diesen Jahren wurden massenhafte Umsiedlungen nicht nur planerisch erwogen, sondern auch durchgeführt. […] Ergebnis waren Vertreibungen, Deportationen und industrialisierter Mord. Für diese Verbrechen wurden Todesmaschinen gebaut, Vernichtungslager, vor allem im Generalgouvernement – die schrecklichsten Produkte des Städtebaus.« 

Es ist ein großes Verdienst des Buches, neben der »triumphalen« Periode 1937–1941, die bis heute ganz wesentlich die Rezeption des Städtebaus der NS-Diktatur prägt, erstmals umfassend auch die Jahre davor und danach zu betrachten.

Das Lager bei Kaprun in Österreich wurde für den durch Hermann Göring am 16. Mai 1938 gestarteten Bau der Tauernkraftwerke, einem Wasserkraft­projekt, errichtet. Die Bauten gruppierten sich locker ansteigend am Hang um einen großen Sammel­platz. Der Einsatz von Zwangsarbeitenden, aber auch von Kriegsgefangenen erreichte dort in den Jahren 1942 und 1943 seinen Höhe­punkt, ehe der Weiterbau nicht mehr als »kriegswirtschaftlich dringend« eingestuft wurde. (© Harald Bodenschatz Collection)

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