Mike Schlaich über die Verhüllung des Pariser Arc de Triomphe: „Wir streben das Gesamtkunstwerk an.“

Katinka Corts
10. November 2021
Foto: © Christo and Jeanne-Claude Foundation
Herr Schlaich, wie alle Projekte hatte auch die Verhüllung des Arc de Triomphe eine lange Vorlaufzeit. Erste Leinwandzeichnungen zum Projekt entstanden bereits 1961 und es dauerte 60 Jahre, bis „L’Arc de Triomphe, Wrapped“ nun für zwei Wochen umgesetzt werden konnte. Wie kam es zur Zusammenarbeit von Ihnen und Christo?


Das Projekt geht ursprünglich auf eine Zusammenarbeit mit Wolfgang Volz zurück, dem Fotografen, der Christo und Jeanne-Claude stets begleitete und seit den 1970er-Jahren ihre Projekte für Bücher und Collagen fotografierte. Er arbeitete früher aber auch für andere Auftraggeber und kam so ins Ingenieurbüro Leonhardt, Andrä und Partner. Für seinen ersten großen Fotoauftrag, bei dem er Brücken dokumentieren sollte, stellte ihm Fritz Leonhardt den jungen Bauingenieur Jörg Schlaich zur Seite – der Anfang einer langen Bekanntschaft.

Christo und Jeanne-Claude beauftragten 2007 und 2008 Professoren verschiedener Universitäten mit Machtbarkeitsstudien für die Mastaba (Abu Dhabi). Unser Ingenieurbüro schlaich bergermann partner wurde anschließend mit der Analyse dieser Berichte betraut. Wir haben die beste Studie zum Vorprojekt ausgearbeitet und sind seither mit dem Christo-Team eng verbunden, waren auch bei der kleinen Version Mastaba, im Hyde Park 2018, mit von der Partie. Es spielte sich ein, dass wir die Tragwerke für das Team planten, und so freute es uns natürlich, als uns das Team bezüglich Paris anrief.

 

Kick-Off-Workshop in Berlin, März 2019 (Fotos: © Christo and Jeanne-Claude Foundation)
Im Vergleich zur deutschen Beauftragungs- und Verfahrenswelt ein ungewöhnlich direkter Weg zu einem Auftrag.


Ja, bei den Arbeiten mit Christo und Jeanne-Claude ging es nie nach Vergabeverfahren oder Bewertungsmatrizen, sondern immer aus dem Bauch heraus. Wir haben das Projekt von Berlin aus betreut, weil wir von da aus auch schon an der Mastaba gearbeitet hatten und das Team eingespielt war. Es war natürlich ein großer Vorteil, dass wir zudem ein Büro in Paris haben und so immer Leute vor Ort waren für Besprechungen. 

Wie Sie bereits sagten, hat L’Arc de Triomphe, Wrapped eine lange Geschichte. Als Christo 2018 angefragt wurde, ob man eine Ausstellung zu den Arbeiten von Christo und Jeanne-Claude im Centre Pompidou machen könnte, war er einverstanden – unter der Voraussetzung, dass dann auch der Arc de Triomphe eingehüllt werden könnte. Das war zu einer Zeit, zu der das fast 200jährige Monument während der Proteste der Gelbwesten angegriffen worden war, und dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron scheint der Gedanke gefallen zu haben, das Monument in ein Kunstprojekt einzubinden. Wir haben dann zwei Jahre geplant, und ursprünglich war die Realisierung für Herbst 2020 vorgesehen. Nach Christos Tod im Mai 2020 und der aufkommenden Corona-Pandemie entschied man sich, die Aktion um ein Jahr zu verschieben.
 

Plan: sbp
Grafik: sbp
Wenn man an einem nationalen Monument und militärischem Denkmal dieser Größe und Bedeutung arbeiten möchte, gibt es sicher zahlreiche Stellen, Ämter und Personen, die mitreden wollen. Immerhin hat hier Frankreich alle je geführten Schlachten in Stein gemeißelt und verehrt den unbekannten Soldaten symbolisch täglich mit einer Zeremonie. Wie haben Sie das Werden des Projektes diesbezüglich erlebt?


Als Bauingenieure gehen wir dem Arc de Triomphe direkt an den Kragen – deshalb waren wir auch zu Beginn schon bei einigen Gesprächen dabei. Christo musste einige Hürden nehmen, aber das war ja das Unglaubliche an Christo: sein Charisma, seine Überzeugungsfähigkeit und seine Begeisterungsfähigkeit. Alle möglichen Institutionen haben mitgeredet! Es gibt ein Comité de la Flamme, dem ein älterer Militär vorsteht und eines war klar: Egal, was wir machen – diese Zeremonie muss jeden Tag stattfinden können. Das Centre de Monument, das die Denkmäler betreut, war involviert, ebenso die Verwaltung des Baus selber. Sie hatte zwar ein Interesse an der Kunstaktion, weil sie Öffentlichkeit bringt, jedoch sollte die Zugänglichkeit des Daches für Besucher*innen nicht beeinträchtigt werden. Und, wie bei so vielen Bauprojekten: Wir hatten auch ein brütendes Falkenpärchen, weshalb wir zu gewissen Jahreszeiten nicht am Monument arbeiten durften.
 

Foto: © Christo and Jeanne-Claude Foundation
Foto: © Christo and Jeanne-Claude Foundation
Nun ist bei Christo-Projekten das Spezielle, dass man quasi mit einer Leinwand zu arbeiten beginnt. Es gibt ein Bild, es gibt Ideenskizzen des Künstlerpaares – aber was die richtige Bauaufgabe ist, was genau die Fragestellungen sind, ist damit ja nicht definiert. Wie näherten Sie sich dem Projekt an und wie findet man die richtigen Lösungsansätze?


Das ist wahr: Man hat zu Beginn „nur“ ein Stück Kunst und weiß, dass Stoff über etwas drüber und mit roten Bändern umschlungen werden soll. Wir kannten ja nicht mal die genauen Abmessungen des Arc de Triomphe! Zunächst haben wir überlegt, wie viel Stoff das überhaupt benötigt. Die Pläne waren zwar hilfreich für eine erste Studie, dann mussten wir aber ins Archiv um beispielsweise rauszufinden, wo Steinfliesen und wo massiver Stein beim Bau eingesetzt worden waren. Schließlich brauchten wir ziemlich viele Stellen, an denen wir Dübel montieren konnten – dafür brauchten wir Angaben zur Tragfähigkeit, zum Stein, zu den aufnehmbaren Druckkräften. Da es zu riskant war, nach älteren Plänen zu arbeiten, haben wir mit Drohnen noch mal eine genaue 3D-Vermessung machen lassen.
 

Foto: © Christo and Jeanne-Claude Foundation
Foto: © Christo and Jeanne-Claude Foundation
Die Aufgabe war also, eine konstruktive Lösung zu finden, bei der die Silhouette des Arc de Triomphe bestmöglich erkannt werden konnte, ohne zu sehr mit direkten Verankerungen und Bohrungen am Bauwerk zu sein. Die Idee, ein enges Gerüst um das Monument zu stellen und dieses dann zu verhüllen, haben Sie nach langen Planungen verworfen. Erzählen Sie doch bitte, wie Sie hier abgewägt haben.


Das Einfachste wäre gewesen, ein Gerüst zu bauen, das stimmt. Aber nicht das Schönste. Schnell war klar, dass die roten Seile, die Christo auf seinem Bild um den Stoff gewickelt hat, unmöglich in der Lage sind, die anfallenden Lasten zu halten. Zum Vergleich: Die Segelfläche der Gorch Fock beträgt 1800 m2, beim Arc de Triomphe sind wir bei 25'000 m2 Stoff. Genauso wie an einem Segel saugt der Wind an einer Verhüllung, und das sind ernst zu nehmende Kräfte! Der Stoff für Paris ist eine Polypropylen-Gewebe mit einem Flächengewicht von etwa 600 gr/m2, wie sie auch schon bei der Verhüllung des Reichstags 1995 zum Einsatz kam. In Paris allerdings sollte die Membran blau sein und mit Alupulver bedampft werden. 

Wir mussten in der Folge herausfinden, was der Stoff aushält und wie winddurchlässig er ist – dazu gab es Versuche im Windkanal. Mit einer Montage an einem Gerüst wäre das schnell erledigt gewesen – aber das ist auch nicht wirklich unser Stil! Und wir stellten fest, dass das schmalste Gerüst immer noch einen Meter breit ist, was die Proportionen der Arc de Triomphe-Silhouette ziemlich verändert hätte. Außerdem wären für die sichere Montage eines Gerüstes am Baukörper mehr als dreimal so viele Bohrlöcher notwendig gewesen, als wir schließlich für unsere gebaute Lösung brauchten.
 

Foto: sbp / Mike Schlaich
Foto: © Christo and Jeanne-Claude Foundation
Das Gerüst war also Geschichte …


Wir planen Hänge- und Schrägseilbrücken und kennen uns mit Seilen aus. Also haben wir überlegt, was wir anders machen können, und kamen zur Idee: Dort, wo die größte Fläche ist, wickeln wir Stahlseile um den Bau, die man später von außen nicht sieht. Wir benutzten Abstandshalter, damit das Bauwerk nicht beschädigt wird. Dort, wo sich außen die großen dicken Christo-Seile kreuzen, verbanden wir die Kunstseile durch den umhüllenden Stoff hindurch mit den tragenden Seilen unserer Konstruktion. An einem Mockup im Maßstab 1:1.6, das sich in einem Vorort von Paris befand, haben wir diese Überlegungen überprüft. An jeder der vier oberen Ecken montierten wir Stahlelemente und Abstandshalter aus Holz, die die Seile vorspannten. Wir hatten bereits im Windkanal gesehen, dass sich der Stoff bei starkem Wind deutlich abheben würde. Dieses Abheben haben wir durch Vorspannung vorweggenommen – dank der Führung der Seile und die parabelförmige Vorspannung bleibt bis zur Hälfte der Windlast die Silhouette gleich. Wir wollten aber auch sichergehen, dass bei den von uns angenommenen Extremlasten der Arc de Triomphe keinen Schaden nimmt. Dazu bauten wir auf einem Testgelände die Konstruktion nach. Hier wurde das bereits gespannte Seil um weitere 50 Zentimeter von der Konstruktion gezogen und losgelassen. Glücklicherweise hielt die Konstruktion das wie erwartet aus. 

Mit dieser Konstruktion kamen wir so nah an die Außenkanten des Bauwerks, dass sich die Silhouette des Arc de Triomphe kaum veränderte, als endlich das Gewebe heruntergelassen wurde. Lediglich vor den großen Statuen, die Schwerter und Trompeten tragen, befestigten wir zum Schutz Käfige aus Stahl. Für die Konstruktion der Auskragungen oben auf dem Dach brauchten wir 200 Tonnen Stahl – insgesamt haben wir, auch wenn es nach viel klingt, mit 400 Tonnen Stahl und 200 Bohrlöchern minimalinvasiv gearbeitet. Der große Vorteil von Stahlbau ist, dass man vorfertigen kann. Mit den Charpentiers de Paris hatte unsere Projektleiterin Anne Burghartz eine Holz- und Stahlbaufirma an der Seite, die in nur zwei Monaten alle Teile so vorfertigte, dass im September schließlich innerhalb von nur einer Woche aufgebaut und verhüllt werden konnte.
 

Foto: © Christo and Jeanne-Claude Foundation
„Das ist meine Definition von Eleganz: Unangestrengte Schönheit. Ich bezeichne etwas als elegant, wenn es ganz natürlich daherkommt.“

Mike Schlaich

Nach zwei Wochen war das Spektakel vorbei und bis zum 11. November, an dem Frankreich das Ende des Ersten Weltkrieges 1918 feiert, wird alles aussehen wie zuvor. Was bleibt von der Aktion, die ein Projekt von 60 Jahren abschloss, überhaupt erhalten?


Christo zelebrierte mit seinen Projekten immer die Vergänglichkeit. Waren alle Arbeiten über Bilderverkäufe erst finanziert, hatten sie ihren Abschluss bereits fast gefunden. Die Rechte zur Vermarktung seiner Projekte hat er jeweils freigegeben, sei es für Fotoarbeiten wie Plakate und Postkarten oder auch die Münzautomaten, an denen sich Touristen Souvenirs prägen konnten.
Am Bau selbst hinterlassen wir keine Spuren, alle Bohrlöcher werden wieder verschlossen. Die Membran wird wieder eingeschmolzen bis auf einen kleinen Teil, auch ein Figuren-Korb soll für eine spätere Ausstellung aufbewahrt werden. Der sonstige Stahlbau kann ebenso weiterverwendet werden.
Arbeitstechnisch war es interessant und anspruchsvoll, inmitten eines riesigen Kreisverkehrs Baumaschinen, Krane und die Arbeit von Industriekletterern zu koordinieren. Das ganze täglich begleitet vom Militär, dem wir für seine Zeremonie eine kleine Plattform inmitten der Baustelle bauten. Auch für Touristen war der Ort die ganze Zeit über zugänglich.
 

Abgesehen von Fachleuten nahm kaum jemand, der sich im September und Oktober die Verhüllung angeschaut hat, all diese konstruktiven Zwänge und Leistungen wahr. Ganz wie auf Christos Leinwandzeichnung sah es aus, als hätte man Stoff über das Bauwerk drapiert und diesen mit Seilen festgezurrt. Sind Sie zufrieden mit dem Projekt?


Ja, durchaus. Sehen Sie, das ist meine Definition von Eleganz: Unangestrengte Schönheit. Ich bezeichne etwas als elegant, wenn es ganz natürlich daherkommt. Also tatsächlich als hätte jemand Stoff über den Arc de Triomphe drüber geworfen und diesen festgemacht. Dem fertigen Werk muss und soll man nicht ansehen, was da für ein Aufwand dahintergestanden hat. Man spürt es vielleicht noch. 

Vielen Dank für das Gespräch. Warten wir nun auf das Werden von The Mastaba, das Christo bereits 1977 begonnen hat. Konstruktion und Montageablauf haben auch dafür sbp erstellt und wir dürfen gespannt sein, ob, wie und wann dieses einzige bleibende Kunstwerk von Christo und Jeanne-Claude in die Welt von Abu Dhabi finden wird. 
 

Mike Schlaich, Prof. Dr. sc.techn., hat in Stuttgart und an der ETH Zürich Bauingenieurwesen studiert und 1989 an der ETH promoviert. Seit 1993 ist er Partner bei schlaich bergermann partner (sbp), Beratende Ingenieure im Bauwesen. Er ist Prüfingenieur für Baustatik und seit 2004 ordentlicher Professor und Inhaber des Lehrstuhls für „Entwerfen und Konstruieren – Massivbau“ am Institut für Bauingenieurwesen der Technischen Universität Berlin.
In der Forschung beschäftigt er sich mit Leichtbau, derzeit vor allem mit dem Einsatz von Kohlenstoffmaterialien für ermüdungssichere, korrosionsfreie Brücken und weit gespannte Dächer sowie mit Infraleichtbeton als tragende Wärmedämmung für monolithische Sichtbetonbauten ohne zusätzliche Dämmstoffe. Im Rahmen seiner Tätigkeit als Geschäftsführer von sbp verantwortet er international ausgezeichnete Brücken- und Hochbauprojekte. Er ist Co-Autor des Buches „Fußgängerbrücken – Konstruktion, Gestalt, Geschichte“ und Autor zahlreicher Veröffentlichungen. 
 
Am Bau beteiligte Fachplaner

Holz- und Stahlbaufirma Charpentiers de Paris
Konstruktionsseile Freyssinet
Membranplanung Ingenieur Tritthardt, Büro für Leichtbau
Membrankonfektionierung Robert Meyknecht, geo – die Luftwerker

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