Elisabeth Endres: »Gesetze und Förderung sind noch nicht auf einfaches Bauen und eine ganzheitliche Planung ausgerichtet«
Elisabeth Endres leitet an der TU Braunschweig das Institut für Bauklimatik und Energie der Architektur. In Lehre und Praxis hinterfragt sie, wie viel technischer Aufwand für behagliche und vielfältig nutzbare Räume nötig ist.
Elisabeth, steigen wir mit deinem Werdegang ein: Von der reinen Architektur zog es dich schnell in die Welt der Bautechnik und des energieeffizienten nachhaltigen Bauens. Wie kam das?
Zunächst war es der andere Geist, der in München an der Universität herrschte, als ich dorthin zum Studieren kam. Im Vergleich zu meiner vorherigen Universität in Kaiserslautern, wo Bauphysik und Haustechnik eher klassisch und getrennt von der Architekturausbildung behandelt wurden, waren Material und Konstruktion, Bauklimatik, Technik und Energieeffizienz in München eingebunden in integrale Entwurfsstudios und damit Teil der Architektur. Das lag auch an Persönlichkeiten wie Thomas Herzog, Gerhard Hausladen und Hermann Kaufmann. Anfangs hat mich das sehr erstaunt und irritiert. In meinen Praktika war ich immer wieder mit Problemen bei der Haustechnik konfrontiert, gleichzeitig habe ich sie als Hilfswissenschaftlerin am Lehrstuhl Hausladen als einfach und integral erlebt. Diese Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis hat mich sehr nachdenklich gemacht und angetrieben, tiefer in die Materie einzutauchen und sie besser zu verstehen.
Während die 2000er-Jahre eher die Zeit der Stararchitekten waren, erleben wir heute einerseits eine Übertechnisierung von Bauwerken und anderseits – gleichsam als Gegenentwurf – ihre stetige Vereinfachung. Wie nimmst du diese Entwicklung wahr?
Ich glaube, dass wir uns in einer Zeit befinden, in der wir teilweise schwierige Diskussionen über die Reduzierung in der Architektur führen. Die Frage des Weglassens und des Wiederverwendens ist natürlich interessant, hat aber großen Einfluss auf die Gestalt. Ich glaube, dass es in diesem Kontext noch wichtiger ist, über Gestalt und Schönheit zu sprechen. Das ist kein Widerspruch, bedarf aber einer ganzheitlichen Herangehensweise. Für mich sind Architektur und öffentlicher Raum Fragen der Gesellschaft. Das war anfangs der 2000er-Jahre etwas in den Hintergrund gerückt, als man das Gefühl hatte, man müsse in großen Büros an Solitären und technischen Rekorden arbeiten, um weiterzukommen.
Es ist wichtig, die Notwendigkeit von Technik kritisch zu hinterfragen, anstatt ohne Rücksicht auf physikalische Prinzipien jedem technischen Fortschritt zu folgen. Die Entwicklung hin zu mehr Nachhaltigkeit – vor allem im Sinne der Ressourcenschonung – erfordert meines Erachtens eine neue Denkweise aller Beteiligten, die Qualität und Angemessenheit in den Vordergrund stellt. Doch als Planerinnen und Planer sind wir auch mit Widerständen konfrontiert, wenn wir versuchen, weniger Technik in unsere Gebäude zu integrieren – es scheint also eine gewisse Erwartungshaltung zum Einsatz von Technik zu geben.
Da spielt die Frage »Wie wenig ist genug« hinein, die du oft stellst. Welche Kriterien helfen dabei, dieses »Genug« zu definieren, ohne die hohe Lebensqualität, an die wir uns alle gewöhnt haben, aufzugeben?
Die Frage nach dem »Genug« hat mit sehr vielen Bereichen des Bauens zu tun: mit den technischen Systemen, dem Einsatz von Materialien, der Flächennutzung, dem Begriff der Fertigstellung und dem Umgang mit dem Gebäudebestand. Man muss sich bei Planungen über das Ziel klar sein: Es geht um gute Aufenthaltsqualitäten. Für mich bedeutet das, mit Vernunft Raumklima-Grenzen zu setzen, in Klimakorridoren zu denken und damit Komplexität zu vermeiden, weil diese die Fehlerwahrscheinlichkeit erhöht. Das Weglassen ist jedoch negativ konnotiert mit »weniger«. Deshalb ist es unsere Aufgabe, die Reduzierung über ihre Qualität und nicht als Verlust zu vermitteln.
Ein gutes Raumklima lässt in einem verträglichen Maße Wärme zu, ohne zwingend 24 Grad Celsius im Winter zu erreichen. Man sollte sich fragen, mit wie wenig Systemen – beispielsweise einem einfachen Flächenheiz- und Kühlsystem in Kombination mit Fensterlüftung – man ein behagliches Umfeld schaffen kann, auch wenn dieses nicht bis zur letzten Stellschraube regulierbar ist. Hinsichtlich der Materialien kann man sich fragen, wie viele Schichten und wie viel Komplexität in den Konstruktionen wirklich nötig sind. Und geht es um Flächen, sollte mehr darüber diskutiert werden, wie wir diese multikodieren können. Also: Die Frage nach Raum stellen und Qualität nicht über Fläche definieren.
Häufig äußerst du deinen Unmut über das heutige Bauen, forderst ein kluges Bilanzieren statt stumpfer Berechnungen und attestierst den Menschen zu viele Bedürfnisse und zu wenig Mangel zu haben. Finden deine Bedenken und die deiner Kolleginnen und Kollegen ausreichend Gehör?
Wir werden gehört, spüren aber auch die Widerstände. Mit guten Bauherrschaften, die Mut haben, können wir unsere Ansätze des »Weniger« oft umsetzen. Initiativen wie der Gebäudetyp E oder Einfach Bauen sowie der Interimsbau Gasteig in München sind gute Beispiele für mich. Auch wenn viel weggelassen wurde, funktionieren diese Gebäude und werden wertgeschätzt. Unsere Einbindung in Gremien wie den Expertenkreis Bau des Bundes, in denen wir die Bauforschung mit auswählen, zeigt, dass unsere Expertise gefragt ist. Im Zuge der wissenschaftlichen Begleitung der Pilotprojekte zum Gebäudetyp E in Bayern geben wir Erkenntnisse direkt an den Minister weiter, der diese in die Bauministerkonferenz einbringt, um auch eine Umsetzung zu erreichen.
Allerdings sehe ich eine große Diskrepanz zwischen dem Gehörtwerden und der tatsächlichen Veränderung der Anreizsysteme und Instrumente in der Bauwirtschaft. Gesetze und Förderung sind noch nicht auf einfaches Bauen und eine ganzheitliche Planung ausgerichtet. Die Normen führen nicht automatisch zu mehr Mut oder zur Reduzierung. Wir werden in den Grundleistungen immer noch nach Investitionskostenanteilen im Honorar bezahlt und nicht nach Beratungsleistung.
Die Umsetzung der Forschungsergebnisse in die Gesetzgebung ist oft zu langsam und zäh. Es fehlt der Schulterschluss zwischen den Erkenntnissen aus der Forschung, beispielsweise zum einfachen Bauen und zu alternativen Baustoffen, und dem, was dann tatsächlich in den Instrumenten umgesetzt wird. Ich denke, dass es bei Auftraggebenden eine gewisse Angst vor der Übernahme von Verantwortung und bei Auftragnehmenden eine Scheu vor alternativen Ansätzen gibt. In Deutschland herrscht oft Angst vor Fehlern und Normabweichungen. Dass es bei uns den Begriff des »schadenfreien Mangels« gibt und bei Abweichungen von der Norm gehaftet werden muss, selbst wenn kein Schaden entsteht, ist schlichtweg paradox.
Der Gebäudebestand wird in den letzten Jahren vermehrt als Ressource angesehen, die es klug zu nutzen gilt. Welche konkreten Maßnahmen und Strategien hältst du für entscheidend, um diese Potenziale im Sinne der Klimaneutralität besser zu aktivieren?
Ein großer Vorteil des Bestands ist, dass er bereits existiert. Wir können also messen und Qualitäten bestimmen, bevor wir Maßnahmen ergreifen. Wenn wir jedoch ständig danach suchen, was das Gebäude nicht leistet und wenn wir den im Haus gebundenen Ressourcen keinen Wert geben, wird der Bestand in der Diskussion benachteiligt. Anstatt also wie im Neubau eine reine Bedarfsbetrachtung zu machen und dann die räumlichen Konsequenzen zu ziehen, sollten wir im Bestand zuerst schauen, welche »Talente« in einem Haus stecken und wie wir die Bedarfsplanung an dieses vorhandene Potenzial anpassen können.
Der dafür nötige Wandel im Denken erfordert Vertrauen gegenüber dem Handwerk, um gemeinsam vor Ort Lösungen zu finden, statt sich ausschließlich auf detaillierte Pläne zu verlassen. Wir müssen uns trauen, anders zu bauen und Beispiele schaffen, die zeigen, dass ein Leben in sanierten Bestandsgebäuden mit weniger Haustechnik möglich und attraktiv ist. Gerade um die Akzeptanz der Nutzenden für solche Ansätze zu gewinnen, brauchen wir viele gute Beispiele.
Bisher konnte die Politik den Bürgerinnen und Bürgern nicht gut vermitteln, was sich beim Bauen ändern muss. Erhoffst du dir mehr von der neuen schwarz-roten Bundesregierung?
Meiner Beobachtung nach haben die Grünen in den letzten Jahren sehr stark auf das Thema der Effizienz im Betrieb fokussiert. Gleichzeitig haben sie es aber nicht geschafft – trotz der Zuständigkeit des Wirtschaftsministeriums für Klima- und Energiepolitik – eine wirkliche Sektorenkopplung voranzutreiben, um mehr über CO₂-neutrale Versorgung, das Verursacherprinzip und die Einbindung der grauen Energien zu sprechen. Diese Themen lagen nicht direkt beim Bauministerium.
Daher ist meine Hoffnung, dass wir ein großes und gutes Bauministerium bekommen, das sowohl den Gebäudebestand als auch den Neubau ganzheitlich betrachtet und diese Themen zusammen denkt. Ich hoffe auch, dass das Thema »Efficiency First« etwas in den Hintergrund tritt und der Umgang mit dem Bestand grundlegend neu gedacht wird – im Spannungsfeld angemessener Sanierungsmaßnahmen und dem Einsatz erneuerbarer Energien.
In der Öffentlichkeit sichtbar werden all diese Themen dieses Jahr an der Architekturbiennale von Venedig – du bist Teil des Kuratoriums für den Deutschen Pavillon. Ihr rückt in eurem Beitrag die Auswirkungen zunehmender Hitze in den Mittelpunkt. Wie wollt ihr die Menschen ansprechen und ihnen eine neue Sicht auf das Bauen vermitteln?
Wichtig finden wir, nicht mit erhobenem Zeigefinger zu agieren oder reine Fakten zu präsentieren, die möglicherweise abschreckend wirken. Stattdessen setzen wir auf ein immersives Ausstellungskonzept, das alle Sinne anspricht. Wir veranschaulichen die Problematik, zeigen aber auch konkrete Lösungsansätze. Die Besucherinnen und Besucher sollen sehen, dass es bereits viele Instrumente in der Stadtplanung gibt, um den Folgen der Hitze entgegenzuwirken. Wir müssen diese Instrumente jedoch anwenden, Abwägungsprozesse entschlacken und das Thema priorisieren.
Und wir malen keine Horrorszenarien für eine ferne Zukunft, sondern zeigen ungefilterte Wärmekarten von bekannten Plätzen, um die aktuelle Hitze in Städten zu verdeutlichen – und zwar nicht von 2080, sondern von 2025. Mit diesem empathischen statt pädagogischen Ansatz wollen wir den Eindruck des Belehrens vermeiden und vielmehr Betroffenheit auslösen. Was bedeutet die steigende Temperatur konkret für Menschen, Flora und Fauna? Wie verändern sich gesundheitliche Risiken? Was ist der Unterschied zwischen Durchschnittstemperatur und Extremereignis?
Indem wir so kommunizieren, hoffen wir, eine breite Öffentlichkeit für die Notwendigkeit eines neuen Denkens im Bauen und in der Stadtplanung zu sensibilisieren. Wir möchten dazu anregen, dass sich nicht nur Fachleute, sondern alle Bürgerinnen und Bürger mit diesen wichtigen Zukunftsthemen auseinandersetzen und ihre Perspektiven in die Diskussion einbringen. Die Biennale soll als Katalysator für ein gesellschaftliches Umdenken wirken.
Elisabeth Endres ist Architektin und Professorin für Gebäudetechnologie an der TU Braunschweig sowie Mitglied der Geschäftsleitung des Ingenieurbüros Hausladen. In Forschung und Praxis liegt ihr Schwerpunkt auf ganzheitlichen Planungsprozessen, mit dem Ziel, robuste Strukturen zu entwickeln, die mit geringerem technischen Aufwand mehr leisten. Elisabeth Endres ist Preisrichterin bei zahlreichen Architekturwettbewerben. Sie sitzt im Berliner Landesdenkmalrat sowie im Gestaltungsbeirat der Stadt München. Als Mitglied des Kuratoriums verantwortet sie den deutschen Beitrag zur 19. Architekturbiennale von Venedig.