Dorfgeschichte durch die Kameralinse
Die Fotoausstellung »Ein Dorf 1950–2022« ist eine bewegende Zeitreise in die Geschichte Ostdeutschlands: Ludwig Schirmer, seine Tochter Ute Mahler und ihr Ehemann Werner hielten die Entwicklung des thüringischen Dorfes Berka mit der Kamera fest. Über 120 ihrer Aufnahmen zeigt jetzt die Berliner Akademie der Künste.
Langzeitdokumentationen, in denen dörfliche Gemeinschaften (und der weitere Lebensweg einzelner, teils fortziehender Protagonisten) im Mittelpunkt stehen, sind bislang vor allem im deutschen Film bekannt: Barbara und Winfried Junge haben sich mit insgesamt 20 Dokumentarfilmen einer Landschulklasse im Oderbruch und den individuellen Lebenswegen von 18 ehemaligen Schülern in der DDR sowie nach der Wiedervereinigung gewidmet (»Die Kinder von Golzow«, 1961–2007). Edgar Reitz hat mit seiner Heimat-Trilogie gewissermaßen eine deutsche Chronik im 20. Jahrhundert gefilmt, in dem fiktiven Hunsrück-Dorf Schabbach, in München, Berlin, Oberwesel und an anderen Orten (1984–2004, mit einem Prequel von 2012). In der Akademie der Künste am Berliner Hanseatenweg ist derzeit eine umfangreiche Werkschau dreier – familiär verbandelter – Fotografen zu sehen, die sich zu unterschiedlichen Zeiten mit dem thüringischen Dorf Berka beschäftigt haben. Gezeigt werden ergreifende – zum Teil amüsante, teilweise aber auch erschreckende – Schwarz-Weiß-Fotos einer Welt, die sich in sieben Jahrzehnten in mancherlei Hinsicht kaum, überwiegend aber grundlegend verändert hat.
Die erste von insgesamt vier Werkgruppen zeigt Fotos, die der Müllermeister Ludwig Schirmer (1929–2001) als bildkünstlerischer Autodidakt zwischen 1950 und 1960 angefertigt und in der Küche seiner Mühle entwickelt hat. Er porträtierte Frauen bei der harten Feldarbeit, ein Hochzeitspaar, von einer Kinderschar umringt, ein die Goldene Hochzeit feierndes Ehepaar in festlicher Kleidung vor einem Backsteinhaus – und immer wieder Dorfbewohner bei Festivitäten (Kirmes und Karneval) sowie in geselligen Runden, zum Teil nach Geschlechtern getrennt: Männer beim Biertrinken in der Schänke, Frauen beim Kaffeekränzchen auf der Wiese. Schirmer, der nach dem Umzug mit der Familie 1963 in die Nähe von Berlin als Werbefotograf reüssieren sollte, hatte schon früh den Blick sowohl für ausdrucksstarke Totalen (zum Beispiel bei Festumzügen mit schlichten Fachwerkbauten als Kulisse) als auch für besondere Situationen (ein Junge, der an die Spitze des Kirmesbaums klettert; ein Paar in Anzügen und mit komischen Hüten, offenbar beim Karneval). Es ist kaum zu glauben, dass dieses Frühwerk erst nach seinem Tod 2001 im Nachlass entdeckt wurde: als seine Tochter Ute Mahler (*1949) und ihr Mann Werner Mahler (*1950) die Negative buchstäblich aus Büchern herausschüttelten.
Werner Mahler, der seine spätere Frau bereits in der 9. Klasse kennengelernt und wie sie Fotografie an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst studiert hatte, kannte die Arbeiten seines Schwiegervaters nicht, als er, der Fotoreporter werden wollte, 1977/78 für seine Diplomarbeit in Berka arbeitete. Systematisch durchstreifte er das Dorf und fokussierte sich schließlich auf rund 20 Themen, von denen in Berlin acht präsentiert werden, denen meist noch eine kuriose Einzelaufnahme zugeordnet ist. So wird die beeindruckende Serie der 82-jährigen Bäuerin Änne Michel, die noch voll mitarbeitet, durch das Porträt einer am Rande eines Polterabends feixenden Gruppe älterer Frauen ergänzt, von denen sich eine am Stelzenlauf versucht und an einer Hauswand abstützt. Andere Themengruppen widmen sich einem Schlachtefest, einer Jugendweihe-Feier, dem Kindertanz am Kindertag (auffallend sind die durchweg freudlosen Gesichter) und dem 77-jährigen Alfred Meyer, »größter Heilkräutersammler im Bezirk Erfurt«. Noch unterscheiden sich die Bilder vom Alltag und von den Festivitäten wenig von jenen aus den 1950er-Jahren. Das sollte sich aber gründlich ändern, als das Magazin Stern den Fotografen 1998 erneut nach Berka schickte.
Acht Jahre nach der Wiedervereinigung wird zwar immer noch eine Festtafel auf einem nun allerdings gepflasterten Weg aufgebaut – und noch immer trifft man sich in der Schänke und auf der Kirmes. Doch die meisten Fotos dokumentieren, dass sich die Dorfbewohner zunehmend in ihr privates Refugium zurückziehen: Da steht ein einsamer Grillmeister in seinem Garten, den er mit einer Sichtblende vom Nachbargrundstück abgeschottet hat. Und wer es sich leisten kann, vergnügt sich nun im eigenen kleinen Swimmingpool, statt gemeinsam durchs Dorf oder die unverändert anrührende Landschaft zu streifen. Der Stern veröffentlichte die Fotos übrigens nicht, weil darauf die offenbar erwünschten »blühenden Landschaften« nicht zu sehen waren.
Ausgerechnet Ute Mahler, die bereits seit 1950 mit dem Dorf vertraut ist, griff als letzte der Fotografenfamilie ebendort selbst zur Kamera. Ihre besondere Aufmerksamkeit galt Mädchen an der Schwelle zur jungen Frau (im Alter von 14 Jahren war Ute Mahler seinerzeit von Berka weggezogen): Es sind Porträts von verloren wirkenden, in sich gekehrten Heranwachsenden, die nicht so recht in diese Umgebung passen, die sich nun – seit der Wiedervereinigung sind mehr als 30 Jahre vergangen – ganz grundsätzlich verändert hat: Ein SUV, der offensichtlich nicht ganz in die Einfahrt zwischen zwei Häusern passt, streckt seine Schnauze in den leergefegten öffentlichen Raum vor. Ein steinerner Vor-»Garten des Grauens« mit penibel in Eiform beschnittenen Gehölzen in Reih und Glied wirkt wie ein Bollwerk eines nicht sichtbaren Hauses. Hinter einer überdimensionierten Doppelgarage sind die Dächer von den Ortskern prägenden Altbauten nur gerade noch zu erahnen. Und auf einem der wenigen Fotos, auf dem überhaupt mehrere Menschen zu sehen sind (Ute Mahler hat 2021/22, also in der Coronazeit, fotografiert), winkt eine Hochzeitsgesellschaft offenbar einer über ihr fliegenden – nicht sichtbaren – Drohne zu und nicht etwa der unmittelbar vor ihr postierten Fotografin.
Es sind überwiegend verstörende Bilder, die diese letzte Werkgruppe prägen. Im Vergleich zu den Fotos aus den 1950er-Jahren haben sich das Dorf und seine Einwohner ganz wesentlich verändert. Und dennoch ziehen sich einige Motive wie ein roter Faden durch die hier über mehr als 70 Jahre dokumentierte Dorfgeschichte (die so oder so ähnlich sicher auch an vielen vergleichbaren Orten fortgeschrieben worden ist): etwa der Erbsbär aus Stroh während der Kirmes, mit Waffen hantierende und leider auch vom Alkohol überwältigte Jugendliche, natürlich das Schlachtefest und nicht zuletzt die eben doch blühende Landschaft (ringsum). In der Gesamtschau ergibt sich – aus städtischer Sicht – ein durchaus befremdliches Szenario!
Die Ausstellung »Ein Dorf 1950–2022. Ute Mahler, Werner Mahler und Ludwig Schirmer« ist bis zum 4. Mai in der Akademie der Künste (Hanseatenweg 10, 10557 Berlin) zu sehen. Die Öffnungszeiten sind dienstags bis freitags von 14 bis 19 Uhr sowie an Wochenenden und an Feiertagen von 11 bis 19 Uhr. Bei Hartmann Books ist bereits 2024 das Buch »Ein Dorf 1950–2022« erschienen. Im Rahmen des European Month of Photography in Berlin mit über 100 Ausstellungen (jeweils mindestens bis Ende März) ist noch eine zweite Ausstellung von Ute und Werner Mahler sowie Ludwig Schirmer zu sehen (»Farbenrausch« in der Galerie Springer, Fasanenstraße 13, 10623 Berlin, bis 19. Juli). Weitere Informationen zu Ausstellung und Begleitprogramm