Hindernisse beflügeln den Erfindergeist

Ludloff Ludloff Architekten | 25. April 2025
Ein Kleid aus Lärchenholzleisten schützt die Kindertagesstätte als Schildwand vor dem Lärm der benachbarten Bahnanlagen. Verspiegelte Festverglasungen, die wie Wassertropfen auf der Fassade liegen, wechseln sich mit zurückgesetzten Öffnungsflügeln ab. (Foto: © Jan Bitter)
Herr Ludloff, worin liegt das Besondere an dieser Bauaufgabe?


Die größte Herausforderung war das Baugrundstück selbst: Aufgrund seines trapezförmigen Zuschnitts und seiner Lage unmittelbar am Gleisfeld war es nur schwer nutzbar. Die hohe Lärmbelastung machte einen Wohnungsbau unmöglich. 

Der Berliner Senat entschloss sich darum, auf der Brache eine Kindertagesstätte mit 185 Plätzen zu bauen, und veranstaltete einen Architekturwettbewerb. In Berlin sollen Kindertagesstätten bevorzugt in Raummodulbauweise errichtet werden – doch aufgrund der besonderen Gegebenheiten schied die Konstruktionsweise in diesem Fall aus. Wir entwickelten einen Entwurf mit einem hölzernen Paravent als Schallschutz- und Gebäudewand sowie einer kreislauffähigen Holzkonstruktion. Diese Lösung überzeugte die Jury: Wir wurden mit dem ersten Preis ausgezeichnet und konnten unser Projekt als Generalplaner realisieren.

Die Gruppenräume im Obergeschoss öffnen sich zur Spielterrasse auf der Ostseite. Zwei Treppen führen in den Hofgarten hinunter. Außenliegende Stoffmarkisen verhindern, dass sich die Innenräume an sonnigen Tagen unangenehm aufheizen. (Foto: © Jan Bitter)
Wie reagiert der Entwurf auf den Ort?


Die Umgebung des Bauplatzes ist architekturgeschichtlich und politisch aufgeladen: In den Jahren der Weimarer Republik entstand hier das Nibelungenviertel nach Plänen des Architekten Kurt Mühlenhaupt und weiterer Kollegen. Die Architekten wagten einen Spagat zwischen Tradition und Moderne: Während die Straßenräume an die großzügigen Dimensionen der Gründerzeit erinnern, orientieren sich die Wohnblöcke an den Idealen der Moderne: Geknickte Zeilen formen großzügige, durchgrünte Innenhöfe. Aber nicht nur der Städtebauentwurf, sondern auch die Gestaltung der Gebäude selbst vereint traditionelle und expressive Elemente mit Ansätzen des Neuen Bauens. Zur geschichtsträchtigen Bebauung der Gudrunstraße gehört neben dem Nibelungenviertel auch die Gedenkstätte der Sozialisten im Osten unseres Baugrundstücks. Dort ruhen Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Auf dem angrenzenden Friedhof stand einst das Revolutionsdenkmal von Mies van der Rohe, das 1926 errichtet worden war und 1935 von den Nationalsozialisten zerstört wurde. 

Die Gudrunstraße verläuft entlang eines gewaltigen Gleisfelds mit zehn S-Bahn- und Fernverkehrstrassen, das die Blockstruktur des Nibelungenviertels diagonal durchschneidet. Entlang der Schnittlinie bricht die regelmäßige Bebauung auf, sodass im Bereich der Kreuzung von Gudrun- und Rüdigerstraße eine trapezförmige städtebauliche Brach- beziehungsweise Restfläche entstand, die wir nun geschlossen haben. An diesem Ort der »Brüche« folgt unsere terrassierte Kubatur dem trapezförmigen Grundstück und interpretiert die geknickten Gebäudezeilen des Nibelungenviertels eigenständig. Unser Bau versteht sich als Handreichung für den Prozess der Aneignung. 

Jedes Gruppenmodul der Kindertagesstätte umfasst einen großen und einen mittleren Gruppenraum sowie einen Schlafraum. Die Trennwände aus Brettsperrholz sind lediglich weiß lasiert, sodass die Holzoberflächen sichtbar bleiben. (Foto: © Jan Bitter)
Die Deckenbalken sind taubenblau lasiert, ebenso die Trennwände, die einseitig aus Schallschutzgründen mit einer Vorsatzschale verkleidet wurden. (Foto: © Jan Bitter)
Die Schrankmöbel aus Eschenholz mit taubenblauen Tablaren und Rückwänden wurden vom Architektenteam entworfenen und vom Tischler gebaut. Runde Fenster stellen eine Sichtverbindung zum Sanitärbereich her. (Foto: © Jan Bitter)
Inwiefern haben Sie die Verwendung von Naturmaterialien und zirkulären Baustoffen angestrebt?


Unsere Entwurfsstrategie basierte von Beginn an auf einer reversiblen, metallfreien Holzkonstruktion. Für Planung und Fertigung nutzten wir konsequent digitale Werkzeuge. Elementierte Vorfertigung ist inzwischen eine Selbstverständlichkeit im Holzbau. Doch die Herausforderung bestand darin, eine Lösung für die komplexe Geometrie zu entwickeln, die zugleich den Verschnitt minimierte. Daher kamen etwa Brettsperrholz-Deckenplatten nicht in Betracht.

Alle Verbindungen wurden als reversible, CNC-gefräste Holz-Holz-Verbindungen konzipiert. Neben Verdübelungen mit Holz wurden vornehmlich Schwalbenschwanz- und verdeckte Scherzapfenverbindungen eingesetzt. Bei den Decken handelt es sich um »traditionelle« Holzbalkendecken, die Wandelemente sind in Holzständerbauweise oder als Massivholzwände ausgeführt.

Diese Konstruktionsweise macht einen sortenreinen Rückbau möglich, nach dem die Bauteile wiederverwendet werden können. Es handelt sich nicht um ein Forschungsprojekt, sondern um einen öffentlichen Bauauftrag – realisiert zu marktüblichen Preisen und im Rahmen des verfügbaren Budgets. Das zeigt: Nachhaltiges, zirkuläres Bauen ist auch unter realen wirtschaftlichen Bedingungen möglich.

Auf jedem Geschoss gibt es zwei Multifunktionsräume, die sich wegen ihrer polygonalen Form besonders gut als Bewegungsräume eignen. Der Kautschukboden ist dort mit einer himbeerfarbenen Intarsie versehen. (Foto: © Jan Bitter)
Die Flure sind als offene Begegnungsräume mit großzügigen Bewegungsflächen gestaltet. Frei in den Raum eingestellte, gestreifte »Findlinge« dienen als Sanitärkerne. (Foto: © Jan Bitter)
Die Sanitärkerne bieten den Kindergartenkindern farbliche Orientierung – jeweils angepasst an Gruppe und Geschoss. (Foto: © Jan Bitter)
Welche Überlegungen stecken hinter den Entscheidungen für die eingesetzten Materialien?


Farbräume spielen in unseren Projekten eine zentrale Rolle. Während sich das Gebäude förmlich aus einer rau gebürsteten Lärchenholzverkleidung herausschält – einer Schallschutzwand, die an struppiges Gefieder erinnert –, besitzen die hofseitigen Fassaden glatte, rot lackierte Holzoberflächen. Doch nicht nur das naheliegende Bild von Schale und Fruchtkern ist von Belang, sondern auch das »Fruchtfleisch«, also der Innenraum: Beim Betreten des Hauses über einen kleinen Vorplatz empfängt die Gäste eine eigenständige Farbwelt, die über einen oxid-roten Filter in Farbräume des Lichts führt. Ein blau lasierter Kunsthimmel aus Holzbalken greift die komplexe Geometrie des Grundstücks auf und verbindet die als Raumkontinuum erlebten Farbräume. Trennendes gibt es nicht – und wo Trennelemente unumgänglich sind, bilden Schiebetüren, Vorhänge und hölzerne Paravents weiche Raumgrenzen, die als Filter erlebt werden.

Frei im Raum eingestellte, gestreifte »Findlinge«, die als Sanitärkerne dienen, unterstützen den räumlichen Fluss. Eingeschrieben in diese »weichen Raumgrenzen« finden sich Orte der Geborgenheit und Kontemplation, ein Kinderparlament und eine für Kinder gestaltete Kochküche. Im Haus wird Demokratie nicht nur gelehrt, sondern auch erlebbar und praktisch erfahrbar gemacht.

Die Innenseiten der Sanitärkerne sind im Erdgeschoss in Senfgelb und im Obergeschoss in Rostrot gehalten. Fenster im Spiegelbereich ermöglichen den Erzieherinnen und Erziehern einen Blick in den Gruppenraum. (Foto: © Jan Bitter)
Eine gewendelte Treppe aus Eschenholz führt ins Obergeschoss. (Foto: © Jan Bitter)
Situation (© Ludloff Ludloff Architekten)
Grundriss Erdgeschoss (© Ludloff Ludloff Architekten)
Grundriss Obergeschoss (© Ludloff Ludloff Architekten)
Längsschnitt und Querschnitte (© Ludloff Ludloff Architekten)
Konstruktionsgrafik der Holz-Holz-Verbinder (© Ludloff Ludloff Architekten)
Kindertagesstätte Gudrunstraße 
2024
Gudrunstraße 14
10365 Berlin-Lichtenberg, Berlin, Deutschland
 
Nutzung
Kindertagesstätte für 185 Kinder mit Kochküche
 
Vergabe
Nichtoffener Realisierungswettbewerb 2019, 1. Preis
 
Bauherrschaft
Bezirksamt Berlin-Lichtenberg
 
Architektur
Ludloff Ludloff Architekten GmbH, Berlin
Laura Fogarasi-Ludloff und Jens Ludloff
Projektleitung: Magdalena Nottrott
Mitarbeiter: Costanza Governale, Armin Fuchs und Yannick Lindner
 
Fachplaner
Außenanlagen: GM013 Landschaftsarchitektur, Berlin; 
Paul Giencke und Lukas Butzer
Tragwerk: Ingenieurbüro für Tragwerksplanung GmbH, Berlin; 
Andreas Külich und Thorsten Bischkopf
Haustechnikplanung: Schimmel Beratende Ingenieure, Berlin; 
Thomas Schimmel, Markus Pasterny und Andreas Kühling
Küchenplanung: Ingenieurbüro B. Prokoph, Ahrensfelde; 
Bärbel Prokoph
Brandschutz: Sachverständigenbüro für Brandschutz Arnold, Weimar; 
Andreas Klappauf 
Akustik und Schallimmissionen: Akustik-Ingenieurbüro Moll, Berlin;
Annika Moll und Reiner Gehret
Wärmeschutz, Energiebilanzierung: Müller BBM Building Solutions, Berlin;
Frank Hülsenberg und Thanh Van Dinh Thi
 
Ausführende Firmen
Holzbau: Terhalle, Ahaus
Fenster: Pötschke, Löbau
 
Hersteller
Bodenbeläge: nora
Türklinken: fsb
 
Bruttogeschossfläche
2'929 m²
 
Fotos
Jan Bitter, Berlin

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