Heimat auf Zeit
In München haben Hild und K einen Übernachtungsschutz mit umfassendem Versorgungsangebot für obdachlose Personen gebaut. Für Matthias Haber ist das sorgfältig gestaltete Haus sicherer Hafen und wertvoller Stadtbaustein zugleich.
Herr Haber, worin liegt das Besondere an dieser Bauaufgabe?
Das Übernachtungsangebot der Landeshauptstadt für alle obdachlosen Personen in München ist bundesweit einzigartig. Insofern war die Aufgabe, einen Neubau mit 730 Plätzen für die bislang behelfsmäßig untergebrachte Einrichtung zu schaffen, sehr ungewöhnlich. Im Projektverlauf wandelte sich das Programm von der reinen nächtlichen Unterbringung hin zu einer umfassenden Versorgung mit angemessenen Räumen für Beratung, medizinische Behandlung und einen Tagestreff, was eine hohe Flexibilität in der Planung erforderte. Zusätzlich zu integrieren war eine medizinische Einrichtung zur Erstuntersuchung von Asylsuchenden. Mit einer sorgfältigen Gestaltung wollten wir dazu beizutragen, dass die Übernachtungsgäste nicht nur Hilfe in einer äußersten Notlage, sondern eine »Heimat auf Zeit« erhalten.
Die auf der Notwendigkeit zur Trennung unterschiedlicher Benutzergruppen basierende räumliche Struktur lehnt sich typologisch an das historische Ledigenheim von Theodor Fischer an. Als dieses in den 1920er-Jahren errichtet wurde, war das umgebende Westend noch ein industriell geprägtes Viertel. Erst später kam die heute bestimmende Wohnbebauung hinzu. Sie reagiert in hohem Maße auf die von dem Architekten und Stadtplaner vorgegebene Blockstruktur. Ähnlich könnte der im Gewerbegebiet angesiedelte Neubau, so unsere Hoffnung, als erster Stadtbaustein einen Impuls für das am Standort vorgesehene gemischt genutzte Quartier setzen.
Der Neubau steht zwischen Großmärkten, Lagerhallen und Parkplätzen. Gerade auch angesichts dieser wenig einladenden Lage ist der auf einer kammartigen Struktur basierende Gebäudegrundriss entscheidend: Mit attraktiven Höfen entstehen zusätzliche geschützte Freibereiche. Der Entwurf schafft aus sich selbst heraus Aufenthaltsqualitäten an einem eigentlich unwirtlichen Ort.
Die Auftragsvergabe erfolgte im Rahmen eines VGV-Verfahrens. Dieses wurde auf Grundlage einer Machbarkeitsstudie durchgeführt, die unser Büro 2018 bearbeitet hatte.
Aus Gründen der Kosten- und Zeitersparnis war für das Projekt eine serielle Bauweise notwendig. Über einem robusten Sockelbereich aus Betonfertigteilen ist die Fassade aus ziegelroten, vorgefertigten Holzrahmenelementen aufgebaut. Die »Bordüre« unterhalb der Attika besitzt ein Vorbild in autochthonen Bauweisen. Dort decken kunstvoll profilierte Bretter empfindliches Hirnholz ab und schützen so die Konstruktion vor Witterungseinflüssen. Bei unserem Neubau liegen hinter den Verblendungen waagerechte Flächen, die bei Nässe ebenfalls gefährdet wären. Konträr zu ihrer Funktion als Opferbretter, die bei entsprechenden Alterungserscheinungen unkompliziert ausgetauscht werden können, besitzen die sorgsam gestalteten Elemente hier wie da einen besonderen ästhetischen Reiz.
Die Landeshauptstadt München fördert die Verwendung von Holz in ihren Bauprojekten. Der nachwachsende Rohstoff mit seiner günstigen CO₂-Bilanz wurde nicht nur bei der Fassade, sondern auch im Innenraum eingesetzt. Mit Linoleum, geschliffenem Estrich und Keramikfliesen wurden weitere Materialien verbaut, die langlebig sind und doch für eine einladende Atmosphäre sorgen.
Wir sind uns der großen sozialen und ökologischen Verantwortung, die wir als Architekten tragen, sehr wohl bewusst. Dies schließt die stetige Auseinandersetzung mit der Frage ein, inwieweit sich die von uns geplanten Objekte für einen etwaigen späteren Umbau oder eine Umnutzung eignen. Die Anpassungsfähigkeit darf als wesentlicher Nachhaltigkeitsfaktor im Lebenszyklus von Gebäuden gelten. Beim Übernachtungsschutz ermöglicht ein tragender Betonskelettbau aus Fertigteilen, dass durch einfachen Rück-, Um- und Weiterbau flexibel auf mögliche Zukunftsszenarien, wie zum Beispiel Nutzungsänderungen, reagiert werden kann. Sollte es also tatsächlich gelingen, dem Problem der Obdachlosigkeit, wie von der Europäischen Union gefordert, ganz grundsätzlich entgegenzutreten, wäre es für uns eine Traumaufgabe, das Haus für seine Nutzerinnen und Nutzer in Wohnungen umzubauen.
2024
Lotte-Branz-Straße 5–7
80939 München
Nutzung
Obdachlosenunterkunft und Erstuntersuchung für Asylsuchende
Auftragsart
Beauftragung nach Machbarkeitsstudie
Bauherrschaft
Landeshauptstadt München, Kommunalreferat, vertreten durch Baureferat – Hochbau H 1
Architektur
Hild und K, München
Projektleitung: Katharina Benz
Fachplaner
Objektplanung Freianlagen: Studio Vulkan, München
Tragwerksplanung: Sailer Stepan Tragwerkteam, München
Projektsteuerung: Drees & Sommer, München
Bauphysik: Möhler + Partner, München
Elektrotechnik: IBM-TGA, München
Haustechnik: Planunion, München
Brandschutz: K33 Brandschutz, München
Sicherheits- und Gesundheitskoordination: Ingenieurbüro Angelika Baur, München
Ausführende Firmen
Design Signaletik: Herburg Weiland, München
Generalunternehmer (GU): Dobler Bauunternehmung, Kaufbeuren
Holzfassade (Nachunternehmer GU): Rubner Holzbau, Augsburg
Garten- und Landschaftsbau: Hammer Garten- und Landschaftsbau, Pfaffenhofen an der Ilm
Photovoltaikanlage: Solarinseln – Systemhaus für Solartechnik, Starnberg
Hersteller
Holz-Alu-Fenster und Außentüren: Fendt Fenster
Innentüren: Schörghuber (u.a.)
Sonnenschutz: HELLA Sonnenschutztechnik GmbH
Linoleum: Forbo
Fliesen: Agrob Buchtal
Bruttogrundfläche
13.000 m²
Bruttorauminhalt
49.200 m³
Gesamtkosten
k. A.
Fotos
Florian Holzherr und Michael Heinrich