KunstTanke

So eine keck geschwungene Glasfront des Verkaufsraums war in den fünfziger Jahren der letzte Schrei. Auch wenn das nur ein »Standardtyp der Shell AG von 1956« war, er prägte für Jahrzehnte den Typus Tankstelle schlechthin – bis sie zu Supermärkten mit Zapfsäule mutierten. Aus so einem Relikt deutscher Wirtschaftswunder-Zeit, einer seit Jahren erst als Werkstatt, dann als Lager vor sich hindümpelnden, leidlich erhaltenen Tankstelle zauberten die Architekten mit viel Fingerspitzengefühl ein feines Wohn- und Atelierhaus für den Schweizer Galeristen Juerg Judin.

Dafür waren zwei Anbauten erforderlich. Sie sind deutlich als heutige Ergänzungen kenntlich gemacht – und doch wurden sie so feinfühlig in das Tankstellen-Ensemble eingefügt, dass sie nicht als störend empfunden werden. Erhaltene Bereiche wurden so wenig wie möglich, so viel wie nötig umgebaut.

Die alten Stahltüren und die fragile Glasfassade des ehemaligen Verkaufsraums mussten aufgearbeitet und ertüchtigt werden. Die »gläserne Kanzel«, das Herzstück der Tankstelle, wurde liebevoll erhalten, fehlende oder beschädigte Fliesen wurden ersetzt, aber nicht durch neue, sondern durch erhaltene alte aus der ehemaligen Werkstatt. Nutzung und Szenerie des Raumes haben sich komplett gewandelt. Wo früher die Autos Schlange standen, ziehen Goldfische die Runde und wo Öl und Reifen gewechselt wurden, kann man Frühstück bereiten oder ein Süppchen kochen...

Der radikalste Eingriff erfolgte durch die Einzäunung: Das ursprünglich öffentliche Gebäude ist zur Straße hin beinahe hermetisch abgeriegelt. Der alte Charme der Tankstelle blieb erhalten, wenngleich er von der Straße aus nur noch erahnt werden kann. Aber will man dies dem Bauherrn verübeln? Die Architekten beschreiben die direkte Nachbarschaft »verkehrsgünstig an der Bülowstraße mit Hochbahn, Straßenstrich und Imbissbuden« als eher robust. Da ließ sich Privatheit wohl nur durch komplette Abgrenzung gewährleisten.
Wilfried Dechau