Wiener Raute

Thomas Geuder
29. September 2015

Die Idee, in Wien einen zentralen Hauptbahnhof zu haben, gibt es schon seit 1873, als hier die große Weltausstellung stattfand. Die Stadt allerdings war damals Zentrum des Habsburger Reiches und damit der Nabel der Welt – zumindest aus dem Blickwinkel des Kaisers Franz Joseph. Nach dessen Logik führten alle Wege nach Wien, und so erhielten alle Richtungen des Kaiserreichs eigene Bahnhöfe, die als Kopfbahnhöfe angelegt wurden. Heute, in Zeiten des schnellen Transports von A nach B, werden Zentren zumindest im Bahnverkehr anders definiert und ausformuliert. So haben die europäischen Verkehrsplaner schon vor vielen Jahren die Achse Paris-Bratislava ausgemacht, die sogenannte «Magistrale für Europa», mit der Ost- und West-Europa noch näher zusammenrücken sollen. Diese Magistrale ist freilich eine fiktive Achse, dennoch mit hohem ideellem Wert für die Europäische Union, und so scheint es zu diesem Zweck wichtig, auf dieser Strecke alle Kopfbahnhöfe durch Durchgangsbahnhöfe zu ersetzen. In Wien ist dieser Plan sogar überaus sinnvoll, denn wollte man die Stadt auf der Durchfahrt nur passieren, musste man tatsächlich den Bahnhof wechseln. Und so ist die Installation eines Bahnhofs, der aus allen Himmelsrichtungen anfahrbar ist, eine vor allem zeitsparende Investition. Mitte der 1990er-Jahre wurde deswegen von Stadt und ÖBB ein Expertenverfahren initiiert, das von dem schweizer Architekten Theo Hotz gewonnen wurde. Jedoch konnte dessen Entwurf nicht umgesetzt werden, und so wurde im neuen Jahrtausend schließlich das Projekt erneut ins Leben gerufen, diesmal mittels eines internationalen, geladenen, nicht anonymen und zweistufigen Wettbewerbs unter Vorsitz des deutschen Architekten und Stadtplaners Kunibert Wachten. Aus diesem Wettbewerb gingen schließlich die Projekte des Züricher-Wiener Teams Theo Hotz / Ernst Hoffmann sowie jenes von Albert Wimmer zur Zusammenführung und Weiterbearbeitung hervor. Im Jahr 2008 wurde der Bau begonnen.

Die senkrechten Öffnungen sind per geschuppter Glasfassade geschlossen, die sich im Brandfall öffnen lässt. (Bild: Roman Boensch)

Das Bauwerk besteht im Prinzip aus mehreren Teilen: Unter den Gleisen befindet sich ein Einkaufszentrum, das statisch gesehen ein eigenständiger Bau ist, denn die Gleise darüber sind – um die Vibrationen durch die Züge zu minimieren – als Brückentragwerke ausgebildet. Gestalt bildend allerdings ist das weithin sichtbare Dach über den Gleisen, das aus einem rhythmisch strukturierten Faltwerk besteht, mit dem ein dynamisches Raumerlebnis in großen Maßstab für die Bahnfahrenden erzeugt wird. Die Idee des Entwurfs ist so einfach wie komplex: Aus dem Typus der Standardeinzeldächer der ÖBB, wie sie an zahlreichen österreichischen Bahnhöfen zu finden sind, entwickelt sich von Osten nach Westen durch Auf- und Abwärtsbewegung sowie durch seitliches Ausdehnen und Komprimieren eine kräftige und prägnante Form, die nicht zuletzt die Dynamik des Bahnfahrens verbildlicht. Dieses Dach überspannt in einer Höhe von 6 bis 15 m fünf Einzelbahnsteige, ist 430 m lang und misst an der breitesten Stelle 120 m. Rund 7.000 Tonnen Stahl wurden (von der Unger Steel Group) für die 37.000 m² große Dachkonstruktion verbaut, was ungefähr der Menge des Eiffelturms in Paris entspricht. Jede Raute besteht aus einem räumlichen Fachwerk, in deren Zentrum sich jeweils ein rhombus-förmiges, 6 x 30 m großes Oberlicht befindet. Zwei A-förmige Stützenquerrahmen (SQR) dienen der Queraussteifung und sind im Abstand von 38 m am Massivbau verankert. Durch die gegenseitige Verschiebung der dreidimensional geformten Rauten ergeben sich dazwischen senkrechte Öffnungen, die mit einer geschuppten Glasfassade aus Dreiecksgläsern versehen sind.

Die Dacheindeckung besteht aus Aluminiumprofiltafeln, die in einer Blattstruktur so gestaltet sind, dass das Wasser in Mittelrinnen zusammengeführt wird. (Bild: Renée del Missier / Unger Steel Group)

Das gesamte Dachtragwerk samt Stützen ist mit Aluminiumpaneelen verkleidet, was dem Dach eine kristalline Anmutung verleiht. Besonderes Augenmerk mussten die Planer auf die Materialwahl haben, denn wegen des Güterzugverkehrs herrschten hier besondere Anforderungen an den Brandschutz. So müssen die Platten einem starken Brand standhalten können, daher wählten die Planer hierfür Verbundplatten aus zwei Aluminium-Deckblechen mit einem nicht brennbaren mineralischen Kern (Alucobond A2), der somit bei Hitze nicht abtropft. Die senkrechten Fenster können außerdem zur Entrauchung im Brandfall geöffnet werden. Ein besonderer Augenschmaus ist auch die Dachaufsicht, denn die Sicken wurden hier so angeordnet, dass das Regenwasser in einer Mittelrinne zusammenläuft, wodurch eine Struktur wie bei einem Blatt entsteht. Die technische Besonderheit hier: Es handelt sich um ein Gleitbügeldach (Zambelli, Rib-Roof) aus 1 mm dickem Aluminium, bei dem die einzelnen Profilbahnen nur am oberen Punkt fest mit der Konstruktion verbunden sind. Durch das Einhaken der Paneele mit lediglich Haltebügeln kann es zu keinen Spannungen durch temperaturbedingte Dehnungen oder Schrumpfungen kommen. So haben die Architekten und Planer mit dem neuen Wiener Hauptbahnhof ein zeitloses Bauwerk erschaffen, an dem die Wiener optisch wie technisch eine lange Zeit Freude haben werden. tg

Mit dem rhythmisch strukturierten Faltwerk des Dachs wird eine Dramaturgie von Innen- und Außenräumen generiert. (Bild: Roman Boensch)
Lageplan (Quelle: Theo Hotz Partner AG)
Grundriss Erdgeschoss (Quelle: Theo Hotz Partner AG)
Querschnitt (Quelle: Theo Hotz Partner AG)
Längsschnitt (Quelle: Theo Hotz Partner AG)
Durch einfaches Setzen, Einschwenken und Einrasten lassen sich die Rib-Roof-Rrofilbahnen schnell verlegen. (Quelle: Zambelli)
Die markanten Rautenfachwerke messen jeweils 76 Meter und werden in Bahnsteigrichtung alle 38 Meter mit massiven Stützenquerrahmen (SQR) abgestützt. (Bild: Renée del Missier / Unger Steel Group)
Das Stahlfachwerk wird durch einen speziell für die Bedürfnisse des Hauptbahnhofs entwickelten Hitzeschild geschützt, da hier mit Hochbrandszenarien gerechnet werden muss. (Bild: Roman Boensch)
Die 14 Rauten, 5 Einzelbahnsteige sowie die Piazza Überdachung bestehen aus 57.213 Profilen, 286.220 Blechen und 338.380 Schrauben. (Bild: Roman Boensch)
Die 14 Rauten, 5 Einzelbahnsteige sowie die Piazza Überdachung bestehen aus 57.213 Profilen, 286.220 Blechen und 338.380 Schrauben. (Bild: Roman Boensch)
Die Untersichten bilden mit exakt geführten Knicklinien die Struktur des Faltwerks ab und formen aus Dreiecksflächen eine Art Kristallkörper. (Bild: Renée del Missier / Unger Steel Group)

Projekt
Hauptbahnhof Wien
Wien, AT

Masterplan und Gesamtkonzept
ARGE Wiener Team, bestehend aus:

Werner Consult Ziviltechniker GmbH
Wien, AT

ISP Ziviltechniker GmbH
Wien, AT

Stoik und Partner Ziviltechniker GmbH
Wien, AT

Tecton Ziviltechniker GmbH
Wien, AT

Ingenieurbüro Dipl. Ing. Wilfried Pistecky
Wien, AT

Architektenteam Hotz/Hoffmann – Wimmer, bestehend aus:

Theo Hotz Partner AG (Rautendach)
Zürich, CH

Prof. Dipl. Ing. Erst Hoffmann ZT-GmbH
Wien, AT

Albert Wimmer ZT-GmbH
Wien, AT

Hersteller
Zambelli RIB-ROOF GmbH & Co. KG
Stephansposching, DE

Kompetenz
Rib Roof Speed 500

Weitere Hersteller
Verkleidung Unterseite Dach: 3A Composites GmbH
Kompetenz: Alucobond A2

Rautenförmige Gläser, Planung: FOB
Ausführung: GIG Fassaden
Kompetenz: Spezialanfertigung

Bauherr
ÖBB-Personenverkehr AG
Wien, AT

Rautendachkonstruktion und Teil-Generalunternehmer
Unger Steel Group
Oberwart, AT

Projektphasen
Wettbewerb 1995: 1. Preis (Theo Hotz)
Wettbewerb 2001: 1. Preis (ARGE Hotz/Hoffmann)
Ausführung: 2008 (ARGE Hotz/Hoffmann – Wimmer)

Fertigstellung
2014

Auszeichnung
2015 - Europäischer Stahlbaupreis | European Steel Design Awards 2015 - Auszeichnung – Wiener Hauptbahnhof (ARGE Hotz/Hoffmann – Wimmer)

Fotografie
Roman Boensch
Renée del Missier
Sigi Herzog
Unger Steel Group
Zambelli



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