Vier Jahreszeiten im Kristall
In Münster haben HPP Architekten zusammen mit Duk-Kyu Ryang ein Bürogebäude erbaut, das die Silhouette der Stadt prägt. Die Mitarbeiter dürfen sich über jahreszeitliche Farbstimmungen im Innenraum freuen, die vom Boden ausgehen.
Die Geschichte der LVM Versicherung reicht weit zurück ins Jahr 1862, als der Mitbegründer der Zentrumspartei und aufgrund seiner Popularität «Westfälischer Bauernkönig» genannte Burghard Freiherr von Schorlemer-Alst die Bauernvereine ins Leben rief, aus denen im Laufe der Jahrzehnte ein breit aufgestellter Versicherer entstand. Architektonisch begann für die LVM Anfang der 1980er-Jahre eine neue Ära, als man gemeinsam mit den Düsseldorfer HPP Architekten ein bestehendes Gebäude um knapp 900 m² aufstockte und umbaute. Seitdem sind HPP quasi die Haus- und Hofarchitekten, die bis heute für die LVM ganze sieben Neubauten und Modernisierungen verwirklicht haben. Das ist für sich betrachtet bereits eine spannende Geschichte, denn an dieser fortwährenden Reihe lässt sich nicht nur ablesen, wie sich die Bedürfnisse eines Versicherers im Laufe der Zeit verändert haben. Da die Rahmenbedingungen, sprich: der Bauherr und der Ort immer gleich waren, lässt sich hier auch bestens ablesen, wie sich der Baustil eines Architekturbüros in den mittlerweile gut 30 Jahren seit der Postmoderne verändert hat.
Mit dem neuesten Baustein auf den LVM-Campus wird vor allem klar, welche Möglichkeiten der Ingenieurbau heute bietet, und dass Hochhäuser längst nicht mehr nur aus gestapelten Standard-Grundrissen bestehen müssen. «Kristall» nennen HPP Architekten ihr Gebäude, das eher einer gläsernen Bauskulptur gleicht, die sich von einem etwas breiteren, ebenso kristallin geformten Sockel aus schräg in die Höhe schraubt und so im architektonisch ansonsten eher klassischen Ensemble einen frischen Kontrapunkt liefert. Die Tragstruktur des Kristalls basiert auf einer Stahlbetonbauweise bzw. einem Stahlbetonskelett mit ebenen Flachdecken, Stützen und Kernen. Sie werden umhüllt von einer 6.000 m² großen Glasfassade als Doppelfassade mit Klimapufferzone, mit einer inneren Fassade mit Dreifachverglasung und orthogonaler Gliederung und einer Außenfassade, die einem Dreiecksraster folgt. Von den über 600 Fassadenelementen weisen 480 unterschiedliche Geometrien auf. Die auffällig gelben Eckstützen (gestrichene Stahlrohre, aus Feuerschutzgründen mit Beton und Stahlkern gefüllt) gehören nicht zum statischen System der Fassade, sondern funktionieren als Eckstützen der Deckenplatten. Im Gegensatz zu den Stahlbetonstützen stehen sie außerhalb der Decke und sind so angeschlossen, dass sie neben den vertikalen Lasten auch die aus der Schiefstellung resultierenden Horizontalkräfte an die aussteifenden Treppenhauskerne weiterleiten.
Bei der Gestaltung des Innenraums gingen die Architekten einen ungewohnten Weg und ließen sich vom anvisierten Bodenbelag inspirieren. Vor und während der Planungsphase besuchten sie das Werk des Bodenbelagsherstellers Desso in Waalwijk/Niederlande, wo sie sich ein Bild von dem dort umgesetzten Cradle-to-Cradle-Prinzip machen konnten, ein auch als «Kirschbaum-Prinzip» bekannter Ansatz, der ähnlich wie der Lebenszyklus in der Natur funktioniert: Ein Kirschbaum etwa produziert Blüten und Früchte, die – wenn sie nicht geerntet werden – zwar als Abfall zu Boden fallen, dort aber zu Nährstoffen für Tiere, Pflanzen und Boden werden. Ineffizienter Abfall wird so effektiv verwertet. Diesem Rhythmus der Jahreszeiten folgend haben die Planer von HPP eine Teppichfliese mit C2C-Zertifzierung in Silber gewählt («Flow» mit EcoBase Rücken und Rücknahmegarantie) und innerhalb dieses Systems 16 verschiedene Farben in den vier Farbgruppen Frühling, Sommer, Herbst und Winter gewählt. Die Stockwerke, jeweils mit einer Jahreszeiten-Farbstimmung versehen, wurden dann in helle und dunklere Zonen gegliedert, mit fließenden Übergängen und nach innen zu den Verkehrsflächen immer dunkler werdend. Die Fliesen wurden nicht verklebt, wie es bei Bahnware meist nötig ist. Das kommt letztendlich dem C2C-Prinzip zugute, da eventuell ausgetauschte Fliesen sauberer wiederverwertet werden können. Die einfache Austauschbarkeit einzelner Fliesen trägt nicht zuletzt zum Nachhaltigkeitskonzept des Kristalls bei, der übrigens als Plusenergiegebäude konzipiert ist und die DGNB-Zertifizierung in Gold noch in diesem Jahr erwartet. tg
LVM 5 «Kristall»
Münster, D
Architekten
HPP Architekten
Düsseldorf, D
mit
Duk-Kyu Ryang
Team Planung: Stephan Heimann, Oliver Wilms, Achim Leschinger
Team Innenarchitektur: Wolfgang Miazgowski, Dorothee Schulte-Kellinghaus
Hersteller
Desso GmbH
Wiesbaden, D
Kompetenz
Bodenfliese «Flow» mit EcoBase Rücken (Cradle-to-Cradle-Zertifizierung in Silber) und Desso TakeBak Rücknahmegarantie
Bauherr
LVM Versicherung
Münster, D
Projektentwicklung & -steuerung
Abteilung Immobilien, Herbert Paschant
DGNB-Zertifizierung
Björn Hennemann (Auditor), Rebecca Teubner
Statik
schlaich bergermann und partner
Stuttgart, D
mit
Otten Beratende Ingenieure GmbH
Münster, D
Energiekonzept
Deerns Deutschland GmbH
Köln, D
Fassadentechnik
AMP Ingenieurgesellschaft mbH
Neuss, D
Beleuchtung
Ing.-Büro Nordhorn GmbH
Münster, D
Landschaftsplanung
Brandenfels landscape + environment
Münster, D
Fertigstellung
2014
Fotografie
HGEsch
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