Körperhaft und ökologisch

Thomas Geuder
11. November 2015
Das geschlämmte Treppenhaus ist wie eine Art begehbare Skulptur mit raffinierter Wege- und Tageslichtführung. (Foto: Johannes-Maria Schlorke)

Projekt: Mehrfamilienhaus der Baugemeinschaft „en famille“ (Tübingen, D) | Architektur: Manderscheid Partnerschaft Freie Architekten (Stuttgart, D) | Bauherr: Baugemeinschaft „en famille“ | Hersteller: Knauf Gips KG (Iphofen, D), Kompetenz: Rotkalk Grund, Rotkalk Fein, Rotkalk Glätte

Nicht selten entscheiden sich mehrere Familien, gemeinsam ein Haus zu bauen, in dem sie alle Platz finden. Das hat diverse Vorteile, einer der entscheidendsten ist: Man weiß schon von Anfang an, mit wem man unter einem Dach sein wird. Für den inneren Frieden muss das nicht schlecht sein. Meist sind sich die Mitglieder einer solchen „Baugemeinschaft“ auch schon einig über den Stil, in dem gebaut werden soll, also die Formensprache sowie die Materialien. In Tübingen waren gleich acht Familien, die im neuen Quartier Alte Weberei ihre Wohnträume verwirklichen wollten. Ihrer Gemeinschaft und schlussendlich auch dem Projekt gaben sie den wohlklingenden Namen „en famille“, was man frei mit „Wohnen in der Familie“ bezeichnen könnte. Das zeigt, wie persönlich und freundschaftlich es im Hause zugehen sollte.

Das winkelförmige Gebäude steht, zum Schutz vor Hochwasser, erhöht auf einem Sockel und weist mit einer markanten Ecke auf den Egeriaplatz. (Foto: Johannes-Maria Schlorke)

So wurde denn auch gemeinsam diskutiert, lamentiert und schließlich entschieden, welche Konstruktion und Gestaltung umgesetzt werden sollte. Die Kubatur des Gebäudes ist zunächst recht schlicht: Der L-förmige Baukörper bildet die Ecke des Quartiers aus und vervollständigt die Häuserflucht. Hie und da ragen Erker oder Balkone aus der Fassade, auch Einschnitte für Loggien prägend die Form. Der am Ende recht monolithisch anmutende Baukörper besitzt durch seine Kompaktheit natürlich energetische Vorteile, schließlich sollte der Bau dem Energiestandard KfW 70 entsprechen, trotz oder gerade wegen der angestrebten ökologischen Bauweise.

Der an sich rein mineralische Putz ist diffusionsoffen und feuchteregulierend, bei dem Tübinger Projekt dennoch wasserabweisend eingestellt. Die Hydrophobierung ist dem Putzmaterial beigemischt. (Foto: Christoph Manderscheid)

Ein besonderes Augenmerk haben die Bauherren zusammen mit ihrem Architekten Christoph Manderscheid deshalb auf den Putz gelegt. So wurden für den Fassadenputz verschiedene Tests durchgeführt, die teilweise den Winter hindurch liefen. Die Entscheidung fiel schließlich auf einen natürlich hydraulischen Kalkputz als Oberputz, der mit dem maximal möglichen Anteil an Ziegelmehl und etwas rotem Eisenoxid eingefärbt wurde. Kalkputz besitzt verschiedene Vorteile, wichtigstes Argument aber für die Bauherren war, dass hierbei keine Biozide zur Pilz- und Algenabwehr sowie zum Schutz vor Mauerspinnen zusätzlich aufgebracht werden müssen. Aber auch die Optik spielte eine Rolle, denn der Putz konnte mit verschiedenen Oberflächen und Farbigkeiten aufgebracht werden und so die Fassade gegliedert werden. Auch die handwerkliche Ausführung ohne Schienen an den Putzkanten wie auch die plastisch körperhafte, leicht wolking wirkenden Flächen verleihen dem Gebäude eine nie langweilige Oberfläche.

Die Oberfläche des Lichtschachts schmückt ein grafisches Muster: Auf die Schlämme wurde mittels einer Kunststoffkelle eine feinste Kalkglätte aufgetragen, die Streifen zuvor mit Klebeband abgeklebt. (Foto: Johannes-Maria Schlorke)

Das Treppenhaus im Inneren ist – da es keinen Fahrstuhl gibt – als eine Art begehbare Skulptur entworfen, die oben in einem kleinen Platz mit Sitzgelegenheiten endet. Das räumliche Rückgrad ist dabei ein Schacht, der das Sonnenlicht bis zum Erdgeschoss leitet. Hier im Innenraum und in den Wohnungen haben die Architekten und Bauherren den Kalkputz Rotkalk (Knauf) eingesetzt, mit dem das Raumklima deutlich verbessert werden kann. Denn Rotkalk – der im Wesentlichen aus Kalk, gebranntem Tonziegel und Kaolin besteht – besitzt eine schnelle Reaktionsweise bei Auftreten von Feuchtigkeit, überschüssige Raumluftfeuchtigkeit wird durch das Ziegelmehl schnell aufgenommen und in der Putzschicht verteilt. Die im Rotkalk enthaltenen Zeolithe spalten die VOC´s (volatile organic compound = flüchtige organische Verbindung) auf und teilen sie in unbedenkliche Einzelteile, so dass diese keine Schadstoffe mehr darstellen. Wenn der Raum dann wieder trockener wird, wird die Feuchtigkeit wieder abtransportiert – und mit der Feuchtigkeit auch die gespaltenen VOC´s. Damit bekommt der Innenraum einen natürlichen Luftfilter an die Wände, der zudem den Wänden eine optisch wie haptisch hochwertige Oberfläche gibt.

Aufgabe für die Planer war, einen kostengünstigen Wohnungsbau (2.300 €/m² WFL inkl. Grundstück + Nebenkosten) mit individuellen Grundrissen zu verwirklichen. (Foto: Johannes-Maria Schlorke)
Lageplan (Zeichnung: Manderscheid Partnerschaft)
Grundrisse 2. Obergeschoss und Dachgeschoss (Zeichnung: Manderscheid Partnerschaft)
Grundrisse Erdgeschoss und 1. Obergeschoss (Zeichnung: Manderscheid Partnerschaft)
Isometrie Treppenhaus (Zeichnung: Manderscheid Partnerschaft)
Auch die Wohnungen sind geschlämmt oder glatt verputzt und mit Kalk gestrichen, um das Raumklima zu verbessern. (Foto: Johannes-Maria Schlorke)
Ein Putz aus Rotkalk verbessert das Raumklima nachweislich. Er hat die Eigenschaft, Schadstoffe aus der Luft aufzunehmen und diese abzubauen. (Foto: Johannes-Maria Schlorke)
Durch die handwerklich ausgeführten Putzflächen und -kanten, ohne Schienen, wirkt das Gebäude plastisch und körperhaft. (Foto: Johannes-Maria Schlorke)
Energetisch erreicht das Gebäude, das mit der Abwärme von verstromtem Klärgas beheizt wird, KFW-70 Standard. (Foto: Johannes-Maria Schlorke)
Projekt
Mehrfamilienhaus der Baugemeinschaft „en famille“
Tübingen, D

Architektur
Manderscheid Partnerschaft
Freie Architekten
Stuttgart, D

Projektleitung: Silke Koch

Hersteller
Knauf Gips KG
Iphofen, D

Kompetenz
Rotkalk Grund, Rotkalk Fein, Rotkalk Glätte

Weitere Hersteller
Kalkputz außen: Tubag
Mauersteine: Gisoton
Anstrich innen: Keim
Parkett: Bembe
Türgriffe: FSB
Elektroschalter: Jung
Raumakustik Gewerbe: Heraklith

Bauherr
Baugemeinschaft „en famille“
vertreten durch Lucia Landenberger (Projektsteuerung)

HLS + Bauphysik
Heiko Fischer
Tübingen, D

Tragwerk
BB-baustatik GmbH
Kirchheim unter Teck, D

Fertigstellung
2014

Fotografie
Johannes-Maria Schlorke
Christoph Manderscheid 

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